Nach der Explosion in Beirut – „Niemand wurde zur Verantwortung gezogen“

Portrait Lennart Lehmannn
Lennart Lehmann, Welthungerhilfe

Vor einem Jahr am Abend des 4. August 2020 erschütterte eine gewaltige Explosion die libanesische Hauptstadt Beirut. In einem Lagerhaus im Hafen Beiruts entzündete ein Brand 2.750 Tonnen hochexplosives Ammoniumnitrat. Die durch die Detonation ausgelöste Druckwelle richtete im Umkreis von fünf Kilometern verheerende Schäden an. Der Wiederaufbau in mitten der Corona-Pandemie und einer andauerenden politischen und ökonomischen Krise stellt das Land vor Probleme. Im Interview berichtet Lennart Lehmann, Projektleiter der Welthungerhilfe in Beirut, über die Situation heute, die Bewältigung der Folgen der Explosion und bestehende Herausforderungen.

 Am 4. August jährt sich die Explosion in Beirut zum ersten Mal. Wie haben Sie und ihre lokale Partnerorganisationen das Jahr in Beirut erlebt?

Die Explosion verursachte Zerstörung und Verzweiflung in Beirut und brachte ein Land ins Rampenlicht, das sich schon seit Längerem in einer existenziellen politischen und wirtschaftlichen Krise befindet. Dazu kam die COVID-19-Pandemie. Aufgrund all der Ereignisse mussten wir flexibel agieren, um zum einen die laufende Unterstützung der Flüchtlinge aus Syrien fortzuführen.  Gleichzeitig mussten wir Hilfe für die Menschen bereitstellen, die von der Explosion betroffen waren.  Dank zahlreicher privater Spenden und öffentlicher Zuwendungen ist uns das auch gut gelungen.

Wie ist die Situation in Beirut heute?

Die Stadt Beirut hat ca. 2,3 Millionen Einwohner:innen und unterteilt sich in Bezirke mit völlig unterschiedlichen Charakteristiken. Da gibt es die mehrheitlich christlich geprägten Stadtteile im Osten, die muslimisch dominierten Stadtteile im Westen und Süden. Dann gibt es die reichen Stadtteile im Zentrum, die sich stark unterscheiden von den umliegenden ökonomisch abgehängten Bezirken. Besonders arm sind die Menschen in den Stadtbezirken, die aus Geflüchtetencamps hervorgegangen sind. Die Situation ist für die Bewohner:innen daher sehr unterschiedlich. Während die Mittelschicht sich derzeit vielleicht mehr um einen mittelfristigen drohenden wirtschaftlichen Abstieg sorgt, machen sich Menschen in den ärmsten Bezirken Gedanken, ob sie in nächster Zukunft noch genug Geld haben, um Nahrung und Wohnung zu bezahlen.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][vc_column_text]Sind die Folgen der Explosion noch in der Stadt spürbar? Nehmen Sie Veränderungen in der Stadt wahr?

Die Explosion hat den Hafen und die Stadtteile, die unmittelbar am Hafen lagen, schwer beschädigt. Über 200 Personen kamen ums Leben, einige sind immer noch vermisst. Im Umkreis von bis zu 10 Kilometern gingen Scheiben und Türen zu Bruch. Ganze Straßenzüge im Zentrum waren über Monate unbewohnbar. Hunderte Geschäfte, Restaurants und Cafés waren komplett zerstört – davon betroffen waren besonders die Szeneviertel am Hafen in Ostbeirut. Historische Bauten mussten teilweise abgerissen werden. Mittlerweile sind viele Häuser repariert und das Leben kehrt zurück.

Die Aufarbeitung der Ursachen der Explosion kommt nicht voran. Niemand wurde bisher zur Verantwortung gezogen. Die meisten Betroffenen erhielten keinerlei Schadensersatz. Das trägt weiter dazu bei, dass sich das Verhältnis zwischen Staat und Bevölkerung verschlechtert hat. Das berühmte Foto des zerstörten Hafens von Beirut, wo im Vordergrund jemand die Aufschrift „My government did this!“ auf die Hafenmauer gesprüht hat, verdeutlicht das Verhältnis. Viele Internationale und auch Libanes:innen, die in Beirut als Selbständige arbeiteten, haben das Land verlassen. Die Explosion war besonders für Angehörige der Mittelschicht, die bereits mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, ein Niederschlag, der ihnen die Motivation zum Weitermachen genommen hat.

Wie hat die Stadt die massiven Schäden bewältigt? Wie ist die Beseitigung der Schäden und der Wiederaufbau abgelaufen?

Die Ersten, die damit begannen, Aufräumarbeiten zu leisten, waren die Bewohner:innen selbst. Bereits am Tag nach der Explosion fanden sich hunderte Menschen ein, die halfen, Trümmer zu beseitigen, Straßen freizuräumen, Alte und Schwache zu unterstützen, Nahrungsmittel und Wasser in die am schwersten betroffenen Stadtteile zu bringen. Es reisten sogar selbstgegründete Aufräumkommandos aus anderen Städten wie Tripoli und Baalbek an. Das hat zu einem starken Gefühl der Solidarität geführt. Schon bald begannen auch nationale und internationale Hilfsorganisationen damit, Unterstützungsarbeit zu leisten.

Ein Jahr nach der Explosion kann man in den Stadtteilen, die unmittelbar am Hafen liegen, noch viele beschädigte und provisorisch gesicherte Gebäude sehen. Viele betroffene Kultureinrichtungen sind noch geschlossen und bitten um Spenden für den Wiederaufbau. Gleichzeitig haben zahlreiche Geschäfte und gastronomischen Betriebe ihre Arbeit wieder aufgenommen. Wenn man abends durch die Szeneviertel am Hafen geht, herrscht viel Betrieb, Cafés und Restaurants, manche von ihnen inmitten von Ruinen, sind gut gefüllt.

Neben der Explosion war das Jahr auch geprägt durch die Corona-Pandemie und die andauernde politische & wirtschaftliche Krise im Libanon, die zu wiederholten Demonstrationen geführt haben. Wie wirken sich die Faktoren auf die Bewältigung der Explosion aus?

Stellen Sie sich vor, sie haben seit Monaten finanzielle Probleme, Ihr Konto ist gesperrt, weil die Bank nicht liquide ist, ihr:e Arbeitgeber:in hat ihren Vertrag nicht mehr verlängert, weil gerade wirtschaftliche Flaute herrscht, im Nachbarland herrscht Krieg, in den Nachrichten hören sie nur, dass sich die Politiker:innen auf keine Pläne zur Verbesserung der Lage einigen können, und jetzt explodiert in der Nachbarschaft ein Lager und ihre Wohnung wird komplett zerstört. Von wem können Sie Hilfe erwarten?

Über die Explosion geriet die Syrienkrise nahezu in Vergessenheit – es halten sich jedoch immer noch 1,5 Millionen syrische Geflüchtete im Libanon auf, die größtenteils auf externe Unterstützung angewiesen. In der Corona-Pandemie haben Zehntausende ihre Arbeit verloren. Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise haben sich Ersparnisse, Gehälter und Renten nahezu in Luft aufgelöst, da die libanesische Währung 90 Prozent ihrer Kaufkraft eingebüßt hat.

Man spricht davon, dass das Land 12-20 Jahre brauchen wird, um aus dieser Katastrophe herauszukommen. Demonstrationen finden dabei erstaunlich wenig statt. Die revolutionäre Stimmung, die Ende 2019, also zu Beginn der großen Wirtschaftskrise, herrschte, wurde durch die Corona-Pandemie abgewürgt. Auf der anderen Seite hat die Explosion dazu beigetragen, dass die Herausforderungen des Libanon eine weltweite Aufmerksamkeit erfahren haben. Viele Hilfsgelder konnten mobilisiert werden. Mit diesen Hilfsgeldern konnten Programme finanziert werden, um Menschen zu unterstützen, die in anderen Regionen des Libanon leben und von schwerer Armut betroffen sind.

Welche Herausforderungen bestehen? Wo ist noch Unterstützung nötig?

Die Krisen des Libanon sind nicht auf die Explosion beschränkt. Wegen der Corona-Pandemie sind Kinder seit 18 Monaten nicht zur Schule gegangen. Aufgrund von Energieengpässen gibt es derzeit keine flächendeckende Stromversorgung. Die Inflation führt dazu, dass sich die Menschen Nahrungsmittel und Medikamente nicht mehr leisten können. Der Bevölkerungsanteil von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, hat sich in den letzten 18 Monaten verdoppelt. Die Versorgung der syrischen Geflüchteten ist sowohl logistisch als auch sozial eine zusätzliche Herausforderung. Die Arbeitslosigkeit hat immens zugenommen, besonders junge Menschen sehen wenig Perspektiven und träumen von Auswanderung. Ländliche und industrielle Betriebe können dringend notwendige Investitionsgüter, die importiert werden müssen, etwa Saatgut, Dünger, Materialien oder Maschinen, nicht bezahlen und stehen vor dem Aus. Es gibt keine Sozialhilfesysteme oder Arbeitslosenunterstützung – der Libanon pflegt eine sehr freie Marktwirtschaft und der Staat nutzt kaum Möglichkeiten, diese fair zu gestalten oder Steuern für öffentliche Investitionen einzutreiben. Deshalb suchen viele Menschen Hilfe über persönliche Netzwerke. Diese Situation führt dann zu ausgeprägten Patronage-Systemen, die dann auch Politik und Wirtschaft prägen. Deshalb ist es wichtig, dass in dieser verfahrenen Situation Nichtregierungsorganisationen wichtige Überbrückungshilfen leisten, bis ein politischer und wirtschaftlicher Reformprozess erfolgreich eingeleitet ist.

Welche Hilfe leistet die Welthungerhilfe noch in Bezug auf die Explosion?

Die Welthungerhilfe hat unmittelbar nach der Explosion über ihre Partnerorganisationen und mit Hilfe privater Spenden 108 kleine und mittlere Firmen und Geschäfte, die für die unmittelbare Versorgung der Bevölkerung in den von der Explosion betroffenen Stadteilen wichtig sind, unterstützt ihren Betrieb wieder aufzunehmen. Mitglieder aus 66 vulnerablen Familien wurden in Arbeitsmaßnahmen im Rahmen der Reparaturarbeiten involviert und erhielten dadurch ein temporäres Einkommen

Mittlerweile unterstützt die Welthungerhilfe zusammen mit der Christoffel-Blindenmission im Großraum Beirut Arbeitsmaßnahmen für über tausend vulnerable Menschen, die ein temporäres Einkommen garantieren, etwa durch Müllbeseitigung in Stadteilen, wo es keine staatlich organisierte Müllabfuhr gibt, oder in der Nahrungsmittelweiterverarbeitung. Die dadurch produzierten Nahrungsmittel werden an 3.600 vulnerable Familien in Flüchtlingslagern verteilt. 280 junge Leute erhalten berufliche Fortbildungen. 70 Betriebe erhalten Unterstützung über Material und Know-how, um die derzeitigen Herausforderungen besser zu bewältigen. In besonders vulnerablen Stadtteilen, in denen viele Geflüchtete leben, fördert die Welthungerhilfe die Einrichtung von 20 Dachgärten zur eigenen Gemüseproduktion.

Was sehen Sie für das nächste Jahr in Beirut? Welche Erwartungen haben Sie für die Stadt?

Im Moment sieht es so aus, als würden zwar die Corona-Infektionszahlen bewältigt werden können, sich jedoch die langsame Erosion von Politik und Wirtschaft mit negativen Folgen für die öffentliche Versorgungslage weiter fortsetzen. Besonders der einkommensschwache Teil der Gesellschaft wird über alle ethnischen und konfessionellen Grenzen hinweg von dieser Entwicklung betroffen sein. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird als Folge weiter zunehmen und Ungleichheit verschärfen. Ein erschwerter Zugang zur Gesundheitsversorgung ist zu erwarten, ebenso wie die weitere Einschränkung der Stromversorgung und Wasserversorgung für Bevölkerung und Landwirtschaft. Der öffentliche Dienst, und Schulen werden unter finanziell schwierigen Bedingungen arbeiten müssen. Hilfsorganisationen werden weiterhin eine wichtige Rolle spielen und dem Risiko ausgesetzt sein, zum politischen Spielball zu werden. Nichtsdestotrotz bleibt die Zuversicht, diese Krisen zu überstehen unter den Libanes:innen weiter bestehen. Die Libanes:innen werden hoffentlich viel Solidarität von uns erfahren.