22. Februar 2024

Kriegskinder in der Ukraine: Warum psychosoziale Unterstützung unverzichtbar ist

Jana Kämmer ist Psychologin und arbeitet bei unserem Bündnismitglied Plan International Deutschland als Referentin für Internationale Zusammenarbeit im Team Ukraine/Osteuropa. Sie plant und realisiert verschiedene Hilfsprojekte mit Schwerpunkt auf der psychischen Gesundheit von betroffenen Kindern und deren Familien in den Projektländern. Im Interview erzählt die 29-Jährige, dass auch zwei Jahre nach Kriegsbeginn der Bedarf an psychosozialer Unterstützung in der Ukraine sehr hoch ist.

Swetlana (34) mit ihren beiden Kindern (7 & 4) nahe ihrer Unterkunft in Bukarest.

Swetlana (34) mit ihren beiden Kindern (7 & 4) nahe ihrer Unterkunft in Bukarest. © Jakob Studnar / Kindernothilfe

[iee_empty_space type=“vertical“ height=“10″ width=“10″ hide_on_mobile=“small-visibility,medium-visibility,large-visibility“ class=““ id=““ /]

Frau Kämmer, warum ist psychosoziale Unterstützung auch im Nothilfe-Kontext so wichtig?

Jana Kämmer: Bei Nothilfe denkt man meistes erstmal an Essen, warme Kleidung, eine Unterkunft. Und das ist auch richtig. Denn die Menschen, die vor einem Krieg fliehen, lassen oft alles zurück. Sie sind deshalb auf diese überlebenswichtige Unterstützung angewiesen. Darüber hinaus aber erleben sie Gewalt, Todesangst, den Verlust von nahestehenden Personen. Diese erschütternden Erfahrungen sind psychisch sehr belastend, besonders für Kinder. Sie bekommen mit, dass ihre Eltern in Sorge sind, müssen ihre Freund:innen und Klassenkamerad:innen verlassen und werden aus ihrem gewohnten und in der Regel sicheren Umfeld gerissen. Damit diese Kinder mit ihren Erfahrungen nicht allein bleiben und lernen, wie sie damit besser umgehen können, ist psychosoziale Unterstützung hilfreich und wichtig.

Welche spezifischen Herausforderungen stellen sich bei der Bereitstellung psychosozialer Unterstützung für Kinder in solchen Notsituationen?

In der Ukraine ist eine der größten Herausforderung der Mangel an Fachkräften, insbesondere in den Gebieten nahe der Front. Viele Fachkräfte sind selbst auf der Flucht. Zum anderen ist die Sicherheitslage in den Gebieten so kritisch, dass sich nur wenige Menschen bereiterklären, dort hinzuziehen, um dort zu arbeiten. In unseren Projekten schulen wir deshalb ansässige Fachkräfte aus verwandten Disziplinen, also etwa Lehrer:innen oder Sozialarbeiter:innen, um den Mangel an Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen auszugleichen.

Hinzu kommt, dass viele geflohene Kinder und ihre Familien sich nur vorübergehend an einem Ortaufhalten. Sie ziehen weiter, aus den Nachbarländern zurück in die Ukraine oder in ein anderes Land. So ist es schwer, kontinuierliche Unterstützung anzubieten. Aber trotzdem: Jeder einzelne Kontakt mit einem:einer Psycholog:in kann schon etwas bewirken und es ist immer besser, diese Unterstützung auch für einen kurzen Zeitraum anzubieten als gar nicht.

Können Sie uns einen Einblick in diese Arbeit geben und erklären, welche Art von psychosozialer Unterstützung für Kinder in vom Krieg betroffenen Regionen der Ukraine angeboten werden? Können Sie uns einige Beispiele für Aktivitäten oder Programme geben, die Sie durchführen, um Kindern zu helfen, Traumata zu verarbeiten und ihre Resilienz zu stärken?

In unseren Projekten bieten wir unterschiedliche Unterstützung für Kinder und ihre Familien an. Darunter fallen Gruppenaktivitäten für Kinder und Jugendliche unterschiedlichen Alters, wie Sportangebote, Freizeitangebote. Hier dürfen Kinder Kinder sein, sie können zusammen spielen, für einen Moment ihre großen Sorgen zurücklassen. Es gibt auch Workshops und Trainings, in denen wir mit Kindern und Jugendlichen über spezifischere Themen sprechen, etwa wie sie Belastungssymptome bei sich und anderen erkennen, an wen sie sich in solchen Fällen wenden können und auch was ihnen helfen kann, im Alltag mit der Situation besser umzugehen. Dazu gehört etwa, sich durch Aufgaben eine Alltagsstruktur aufzubauen und sich mit anderen Betroffenen auszutauschen. Für stärker belastete Kinder und Familien gibt es bei uns in den Projekten auch Einzelberatung und gegebenenfalls werden Betroffene an spezialisierte Stellen weitervermittelt für Therapieplätze oder psychiatrische Unterstützung. Ganz bemerkenswert finde ich die Angebote für Kinder und Jugendliche, in denen diese ihre Erfahrungen auf künstlerische Weise verarbeiten können und sie mit den Fachkräften über ihre Bilder in den Austausch treten.

Wie unterscheidet sich psychosoziale Unterstützung heute zwei Jahre nach Kriegsbeginn zu der unmittelbar nach Kriegsbeginn im Februar 2022? Wie haben sich die Unterstützungsarbeit sowie die Anliegen und Anforderungen betroffener Kinder verändert?

Die Belastung durch den Krieg für Kinder und ihre Familien in der Ukraine nimmt zu. Zwar erleben sie auch einen Alltag, denn Menschen können nicht über Monate oder Jahre 24 Stunden am Tag im Alarmzustand leben. Dennoch wird die Last durch die Angst um Familienmitglieder, Freund:innen, um das eigene Haus, die Wohnung immer schwerer.

Für Familien, die in die Nachbarländer geflohen sind, verändert sich der Schwerpunkt teilweise. Hier geht es mittlerweile auch um Integration, eine Sprache zu lernen, um in die Schule gehen zu können und sich ein neues Leben aufzubauen. Hier beziehen wir in unseren Projekten nun auch stärker die Aufnahmegesellschaft mit ein. So planen wir zum Beispiel Projekte mit rumänischen und ukrainischen Jugendlichen zusammen, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken.

Jana Kämmer arbeitet bei Plan International Deutschland als Referentin für Internationale Zusammenarbeit

Jana Kämmer (29) entwickelt Projektideen mit lokalen Partnerorganisationen basierend auf dem aktuellen Bedarf der Kinder und Jugendlichen vor Ort.

„Früher malte sie Blumen, doch nun malte sie Panzer, Soldaten und Flugzeuge.“

Wie reagieren Kinder in der Regel auf die psychosoziale Unterstützung, die sie erhalten, und welche positiven Veränderungen sehen Sie in ihrem Verhalten oder Wohlbefinden?

Wie auch in Deutschland, ist es in der Ukraine noch oft ein Tabu, über psychische Erkrankungen zu reden oder offen zu erzählen, dass man sich Hilfe sucht. In unseren Projekten versuchen wir mit niedrigschwelligen Angeboten, in Kontakt mit Kindern zu treten und ihnen darüber Informationen über weitere Unterstützung mitzugeben. Zum Beispiel haben wir mit der Organisation Clowns Without Borders in unseren fünf Projektländern inklusive Deutschland Veranstaltungen durchgeführt, immer in Kooperation mit lokalen Partnerorganisationen. Mithilfe des Einstiegs über die Shows und Workshops der Clowns, haben wir die Möglichkeit, Kindern und deren Familien über die Dienstleistungen der Partnerorganisationen in den Bereichen psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung zu informieren. So ist der erste Kontakt einfacher, die Hemmung sich an diese Personen zu wenden, ist niedriger, und die Aufmerksamkeit auf psychische Gesundheit wird gestärkt.

Erinnern Sie sich an ein konkretes Beispiel des positiven Wirkens von psychosozialer Unterstützung, an das Sie besonders gerne zurückdenken?

Die Geschichte von Silvia, einer 45 Jahre alten Mutter von fünf Kindern, hat mich sehr berührt. Sie ist mit drei ihrer Kinder von Odessa nach Nord-Moldau geflohen. Dort haben sie und ihre siebenjährige Tochter an einem unserer BEH-geförderten Projekte teilgenommen. In den Sitzungen wurde sie gebeten, Bilder zu malen. Früher malte sie Blumen, doch nun malte sie Panzer, Soldaten und Flugzeuge. Ihre Mutter erzählte, es sei als würde ihre Tochter sagen: „Wir sind im Krieg. Es wird geschossen. Wir werden getötet. Unsere älteren Brüder sind noch dort.” Sie war schwer traumatisiert zu diesem Zeitpunkt. Heute malt sie wieder Blumen.

Welche besonderen Bedürfnisse haben Kinder in Bezug auf psychische Gesundheit und Wohlbefinden in Krisensituationen im Vergleich zu Erwachsenen?

In unseren Bedarfsanalysen mit betroffenen Kindern und Jugendlichen hat ein Jugendlicher gesagt: „Im Krieg müssen Kinder schnell erwachsen werden“. Dieser Satz trifft den Kern des Problems ziemlich gut. Denn für eine gesunde Entwicklung bei Kindern ist es wichtig, dass sie spielen können, mit Gleichaltrigen soziale Kommunikation lernen, sich selbst kennenlernen, die eigene Identität ausbilden. Sie brauchen ausreichend Schlaf, um Erlerntes in Erinnerung zu behalten. Diese ganzen Prozesse werden im Krieg unterbrochen oder finden überhaupt nicht mehr statt. Der Krieg verändert alles. Das Sicherheitsempfinden durch Bombenalarme, die Rollenaufteilung in der Familie, finanzielle Schwierigkeiten. Im Krieg gibt es oft keinen Raum für diese ganz natürlichen Bedürfnisse von Kindern und diese wichtigen Entwicklungsschritte. Und das hat Auswirkungen, welche die betroffenen Kinder und Jugendlichen ein Leben lang mit sich tragen werden.

„Es ist unmöglich, ein gesundes Land mit psychisch kranken Menschen aufzubauen.“

Wie wichtig ist es, auch die Familien und Gemeinschaften der Kinder in den Unterstützungsprozess einzubeziehen, und wie geschieht das in der Arbeit vor Ort?

Viele Erwachsene und Eltern haben als ersten im Impuls die Kinder vor den schrecklichen Geschehnissen des Kriegs fernhalten zu wollen, ihnen nichts davon erzählen zu wollen. Aber das ist ein Trugschluss, die Kinder bekommen sehr früh mit, dass etwas anders ist, ihre Eltern Angst haben, unsicher sind oder der Papa nicht da ist. Es ist daher wichtig, mit den Kindern darüber zu reden – natürlich auf kindgerechte Weise. Aber wenn ein Kind Angst hat und ihm vermittelt wird, „es ist nichts“, dann verunsichert dies das Kind im Umgang mit den eigenen Gefühlen, die ja trotzdem da sind. Hier ist es wichtig, Eltern zu unterstützen, damit sie wissen, wie sie mit ihren Kindern umgehen können.

Welche Rolle spielen kulturelle und soziale Faktoren bei der Bereitstellung von psychosozialer Unterstützung für Kinder in unterschiedlichen Regionen oder Gemeinschaften?

Psychische Gesundheit ist stark kulturell geprägt, wie man darüber redet, bei wem man sich Hilfe sucht, welche Art von Hilfe man wünscht/erwartet oder auch, was Stigmatisierungen angeht. Das ist sehr wichtig mitzudenken im Umgang mit Betroffenen. Da wir in unseren Projekten immer mit lokalen Partnerorganisationen arbeiten, ist der große Vorteil, dass die meisten Kolleg:innen aus dem gleichen kulturellen Kontext kommen wie die betroffenen Kinder. Wir haben allerdings auch Projekte in den Nachbarländern und auch in Deutschland mit Geflüchteten. Hier muss man den kulturellen Kontext immer mitdenken und möglicherweise genauer erklären, wie psychische Gesundheit und auch Unterstützungsansätze jeweils verstanden werden und ob sich die Betroffenen damit identifizieren können oder man einen gemeinsamen Weg finden kann.

Welche Unterstützung benötigen Sie selbst, um effektiv in Ihrem Bereich arbeiten zu können, und wie können Menschen oder Organisationen am besten dazu beitragen?

Ich freue mich total, dass das Thema psychische Gesundheit im Humanitären Kontext immer mehr Aufmerksamkeit erfährt, etwa von den Regierungen in Deutschland und der Ukraine, von Hilfsorganisationen und Geldgebern. Es ist der erste Schritt, dass gesehen wird, welche essenzielle Bedeutung die psychische Gesundheit für das Wohlbefinden von uns allen und auch von einer Gesellschaft hat. Oder wie uns eine 17-Jährige aus Cherson in einer Bedarfsanalyse gesagt hat: „Unsere psychische Gesundheit ist mit Sicherheit eines der wichtigsten Anliegen. Denn es ist unmöglich, ein gesundes Land mit psychisch kranken Menschen aufzubauen.“

Abschließend, welche Hoffnungen oder Ziele haben Sie für die Zukunft der Arbeit im Bereich der psychosozialen Unterstützung für Kinder in Krisen- und Katastrophengebieten?

Meine Hoffnung ist, dass wir über unsere Projekte die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen stärken können und sie zu gesunden und gestärkten Erwachsenen heranwachsen können. Sie sind diejenigen, für die wir die Zukunft gestalten wollen. Und nicht nur das: Sie selbst sollen die Zukunft gestalten. Da sehe ich unglaublich viel Potential, sehr viel Engagement und viele tolle Ideen!

So können Sie helfen