• Menschen laufen über Trümmer nach dem Erdbeben in Nordsyrien.
    Viele Gebäude im nordsyrischen Erdbebengebiet sind vollkommen zerstört worden. © KRC

Erdbeben Türkei/Syrien: „Viele haben immer noch Angst, feste Gebäude zu betreten.“

Fee Baumann vor Hilfskonvois

Fee Baumann vor den Hilfskonvois des Kurdischen Roten Halbmonds © KRC

Fee Baumann arbeitet seit Anfang 2019 für den Kurdischen Roten Halbmond (KRH) in Nordostsyrien. Helfer:innen wie sie organisieren die so dringend benötigte Unterstützung in der Region, in der Krieg andauert und die humanitäre Versorgung extrem prekär ist.

So auch nach den Beben. In der Nacht auf den 6. Februar dieses Jahres erschütterten mehrere Erdbeben die syrisch-türkische Grenzregion – ein Ereignis, das die Weltgesundheitsorganisation als schlimmste Naturkatastrophe in der Region seit einem Jahrhundert wertete und welche mindestens 52.000 Menschen das Leben kostete.

Baumann erlebte die Erdbeben in der Stadt Qamişlo selbst mit. Gemeinsam mit ihren Kolleg:innen starteten sie noch in derselben Nacht mit Hilfsarbeiten. Der KRH ist mit seinen etwa 1.500 Mitarbeiter:innen die größte lokale humanitäre Hilfsorganisation in Nordostsyrien – eine Region, die seit mehr als zehn Jahren unter Selbstverwaltung steht und inzwischen ein Drittel Syriens ausmacht. Dort sorgen sie für eine medizinische Infrastruktur und leisten Hilfe in jeder Krise. Auch mit Unterstützung der Bündnis-Mitglieder medico international und German Doctors sind sie seit dem Erdbeben in der Katastrophenschutzhilfe aktiv. Die Erdbeben liegen mittlerweile mehrere Monate zurück. Fee Baumann erzählt, wie sich die Lage vor Ort bisher verändert hat. 

Bündnis Entwicklung Hilft: Die Erdbeben haben sich vor mehreren Monaten ereignet. Wie ist der Versorgungsstand in den betroffenen Regionen heute? Was funktioniert bereits gut, was sind bisherige Erfolge? 

Fee Baumann: Unsere Teams waren schon vor den Erdbeben in der betroffenen Region in Aleppo und Shehba aktiv. Sie haben sich dort um die medizinische Versorgung der Bevölkerung gekümmert. Die Versorgungslage war jedoch nie gut. Das medizinische Equipment war nicht ausreichend, es gab nicht genug Medikamente, zu wenig Personal für den hohen Bedarf. Das lag auch an der fehlenden Unterstützung: Wir hatten keine Mittel, um die Versorgungslage zu verbessern. Nach dem Erdbeben hat sich das – tragischerweise – verbessert, aber natürlich ist die Not nun auch viel größer. Wir haben schnell Mittel für die vom Erdbeben betroffenen Menschen erhalten und konnten Medikamente und Zelte kaufen, Krankenwägen in die Region schicken und Lager für die obdachlos gewordenen Menschen aufbauen. Unsere Mitarbeiter:innen haben Hygieneartikel, Decken und Kleidung verteilt. Auch Gehhilfen und Rollstühle konnten wir inzwischen kaufen, auch viele alte Menschen sind vom Erdbeben betroffen und haben alles verloren. 

Ich arbeite seit mehreren Jahren hier und habe gemeinsam mit meinem Team beim KRH schon viele schwere Zeiten gemeistert. Es hat mich diesmal jedoch sehr beeindruckt, wie schnell unsere Teams in den betroffenen Regionen reagierten. Bereits wenige Stunden nach dem Erdbeben standen in allen größeren Städten große Zelte als Zufluchtsorte bereit. Es gab Öfen, Matratzen, Decken, Essen, Wasser und natürlich Krankenwagen mit Ärzteteams. Einen Tag nach dem Beben waren auch die Zelte nach Aleppo unterwegs, drei Tage später war unser Hilfskonvoi abfahrbereit. Weil unsere Lager schon lange nicht mehr aufgefüllt waren, mussten wir erst mal viel Equipment hier einkaufen. An das nötige Geld haben wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gedacht. Im Zweifel hätten wir wahrscheinlich alle auf die nächsten Gehälter verzichtet. Das Tempo, in dem wir arbeiten können und die Hingabe unserer Teams motivieren mich bis heute extrem.  

Woran fehlt es weiterhin? 

Die vom Erdbeben zerstörten Gebäude müssen wieder aufgebaut und die Versorgung für die obdachlosen Menschen in den Flüchtlingslagern sichergestellt werden. Wir kümmern uns auch um die medizinische Versorgung der Menschen, eröffnen Krankenhäuser wieder neu oder überprüfen sie auf Erdbebensicherheit. Wir planen, Solaranlagen aufzustellen. Das ist nicht nur nachhaltig, sondern gibt uns in Krisensituationen auch mehr Sicherheit. Um dies flächendeckend umzusetzen, fehlen uns jedoch derzeit noch die Mittel. 

Schon vor dem Erdbeben war die Elektrizität in vielen Gebieten ein Problem, auch weil Umlaufwerke vom türkischen Militär gezielt zerstört worden sind. Der Strom ist jedoch überlebenswichtig. Zum Beispiel, um die Kühlung der Medikamente zu gewährleisten – im Sommer erreichen die Temperaturen regelmäßig über 50 Grad Celsius – oder um die Wasserpumpen der Brunnen in Betrieb zu nehmen. In den Haushalten kommt es fast täglich zu stundenlangen Stromausfällen. Dann haben die Menschen kein Licht, können Handys nicht laden oder ihr Essen in den Kühlschränken nicht mehr kühlen. Auch in den Flüchtlingslagern haben wir dieses Problem, die Menschen leben dort ohnehin unter widrigen Bedingungen. Wir versuchen, über Generatoren auszuhelfen, aber den ganzen Bedarf können wir natürlich nicht decken. Das Erdbeben hat diese Situation noch verschlimmert. 

Die Lage in Nordsyrien gilt nicht nur wegen der Folgen der Erdbeben als besonders schlimm. Der Norden Syriens steht de facto unter der Kontrolle der Türkei und ihrer verbündeten Milizen. Wie schwierig gestalten sich Hilfsleistungen in einem Gebiet, in dem seit Jahren Krieg herrscht? Wo braucht es weiterhin Bemühungen oder Verbesserungen? 

Die Erdbebenkatastrophe ist ein gutes Beispiel für eine extrem schwierige Umsetzung humanitärer Hilfe in Syrien. Von Beginn an hatten wir Probleme mit den Zugängen in die von Erdbeben betroffenen Regionen. Das Erdbeben hat in Syrien vor allem den Westen schwer getroffen. Die Gebiete dort stehen unter der Kontrolle radikal-islamistischer Milizen oder des syrischen Regimes, unsere Hilfe war dort nicht willkommen. Dabei hatten wir mehrere Hilfskonvois fertig und die ersten Tage sind bei einem Erdbeben entscheidend. Wir standen zehn Tage an den Grenzposten des syrischen Regimes, bis wir in die überwiegend kurdischen Stadtteile in Aleppo und nach Shebha durchgelassen wurden. Bis heute haben wir dieses Problem. Mit den Kolleg:innen in diesen Gebieten kommunizieren wir viel digital. Wir halten uns an das humanitäre Grundprinzip und sind bereit, überall zu helfen, wo Not ist. Auch wenn unsere Mittel begrenzt sind. Bis heute verhindert das syrische Regime die Zusammenarbeit mit dem syrisch-arabischen Halbmond – obwohl die Vereinten Nationen immer wieder versuchen zu vermitteln. Aber die UN kann sich schon lange nicht mehr gegen Assad und seinen Stab durchsetzen. 

Hinzu kommt, dass es seit Anfang 2020 keinen Grenzübergang mehr für UN-Hilfe nach Nordostsyrien gibt. China und Russland blockieren diesen, mit dem Ziel, die Hilfe über Assad zu zentralisieren und ihn als Präsidenten zu festigen. Eine erfolgreiche Strategie, wie auch nach dem Erdbeben deutlich wurde. Wie schon in der Corona-Zeit ist in den Nordosten gar keine UN-Hilfe gelangt. In Westsyrien, Idlib und Afrin, nur sehr verzögert. In den von türkischen Söldnern besetzen Gebieten wird Hilfe oft nicht verteilt, sondern landet auf dem Schwarzmarkt. Hinzu kommen dort die extreme Benachteiligung und Verfolgung von Minderheiten, wie der kurdischen Bevölkerung. Diejenigen, die geblieben sind, fürchten die Gewalt der Milizen und waren von jeglicher Hilfe abgeschnitten. Sie mussten sich selbst organisieren. Wie schon erwähnt, uns wurde nicht gewährt, dort zu helfen. Ein humanitäres Desaster und Versagen der internationalen Gemeinschaft. Wir konnten mit den uns zur Verfügung gestellten Mitteln am Ende natürlich schon helfen. Aber eben sehr verzögert, begrenzt auf einige wenige Gebiete und nicht in dem Maße wie es unsere Kapazitäten eigentlich hergeben könnten. 

Waren die Hilfsmaßnahmen wegen der kürzlich stattgefundenen Wahlen in der Türkei auf irgendeine Art beeinflusst? 

Nein, das haben wir nicht mitbekommen. Aber unsere Hilfsgüter beziehen wir in der Regel über den einzigen Grenzübergang in den Nordirak oder aus Syrien selber. Es gibt aber regelmäßige Angriffe durch das türkische Militär – vor und nach den Wahlen. Entweder gezielte Tötungen durch Drohnen oder Beschuss in den grenznahen Gebieten. Das führt zu einer extremen psychischen Belastung unter der Bevölkerung, auch unter unseren Mitarbeiter:innen. Das Leben hier ist aktuell sehr perspektivlos, Frieden nicht in Sicht. Die Lebensumstände werden immer schlimmer und dann passiert noch ein Erdbeben. Es trifft, diejenigen die ohnehin schon geflohen sind, vor türkischen Angriffen oder dem syrischen Bürgerkrieg. 

Hat der Wiederaufbau in den von den Erdbeben betroffenen Gebieten bereits begonnen? 

Durch den Krieg in Syrien waren viele Häuser bereits zuvor stark beschädigt und sind mit den Erdbeben jetzt komplett kollabiert und wurden unbewohnbar. Der Wiederaufbau in Aleppo, in den überwiegend kurdischen Stadtteilen, hat aber begonnen. Die Schäden im Abwassersystem konnten behoben werden. Schulen wurden wieder hergestellt und sind wieder geöffnet. An den medizinischen Einrichtungen arbeiten wir derzeit. Durch die mobilen Kliniken konnten wir sie die ganze Zeit aufrechterhalten, aber es geht nun darum, sie langfristig zu sichern. 

Es gibt aber weiterhin einsturzgefährdete Häuser und ganze Straßenzüge, die komplett zerstört sind. Viele mehrstöckige Wohnhäuser sind ganz oder teilweise eingestürzt und werden auch auf längere Sicht nicht wieder aufgebaut werden können – dafür fehlt es schlicht an Material und Gerätschaften. Viele Menschen konnten inzwischen immerhin von der Straße in ihre Wohnungen zurückkehren oder in Camps ziehen. Diese Versorgung in den Zeltlagern wird es sehr lange brauchen. Es ist nicht absehbar, ob und wann private Häuser wieder aufgebaut werden können.  

Wie steht es um die psychische Gesundheit der Menschen vor Ort?  

Das Erdbeben und die Folgen sind noch lange nicht verarbeitet – der Schock steckt den Menschen tief in den Knochen. Viele haben immer noch Angst, feste Gebäude zu betreten und bevorzugen es, in Zelten zu wohnen. Psychologische Hilfe wird dringend benötigt. Wir haben leider zu wenig ausgebildete Psychiater:innen im Einsatz, aber versuchen unser Bestes, auch hier zu unterstützen, zum Beispiel durch Fortbildungen und einfache psychologische Erste Hilfe Trainings durch ausgebildete Psycholog:innen.  

Wie hast du persönlich die Erdbeben erlebt? 

Es war nachts, ich habe gerade geschlafen und wurde vom Beben geweckt – ich wusste erst nicht, was los war. Zuerst dachte ich an einen Bombenangriff, aber dann ist mir aufgefallen, dass die Geräusche nicht dazu passen und das Haus anders wackelt. Ich habe gehört, wie verschiedene Dinge im Haus zu Bruch gingen und hatte das Gefühl, dass das Wackeln immer schlimmer wird. Ich wusste, man soll bei Erdbeben nicht auf die Straße rennen. Zeitgleich habe ich aus dem Fenster beobachtet – ich wohne im dritten Stock -, wie die Menschen aus den benachbarten Häusern panisch auf die Straße liefen. Also bin ich dasselbe Risiko eingegangen und bin mit Handy, Ladekabel und Laptop auf die Straße geflüchtet. Die restliche Nacht haben ich und meine Mitbewohner:innen in einem Caravan verbracht. Ich wusste nicht, ob in Europa schon jemand davon mitbekommen hatte, aber ich habe sofort eine Nachricht nach Hause geschickt, dass es mir gut geht. Diese massive Naturgewalt, die Hilflosigkeit, die man verspürt, das Gefühl völliger Auslieferung, haben mich noch lange danach beschäftigt. Und dass, obwohl unsere Region nicht einmal stark betroffen war. Ich hatte wochenlang danach noch das Gefühl, als wäre ich seekrank. Wegen der vielen Nachbeben war ich mir nie sicher, ob mein Körper oder die Erde wankt. Um das zu kontrollieren hatte ich immer eine halbvolle Wasserflasche auf dem Boden vor mir stehen.  

Hinweise für Redaktionen

  • Gerne stellen wir Kontakt zu Interviewpartner: innen her.
  • Das Bündnis Entwicklung Hilft sowie alle Bündnis-Mitglieder tragen das DZI Spenden-Siegel. Mehr Informationen unter:
    www.entwicklung-hilft.de
Das Interview führte Philipp Kienzl, Referent Kommunikation