7. Februar 2025

Türkei / Syrien: Zwei Jahre nach dem Beben bleiben die Belastungen enorm

Im Februar vor zwei Jahren erschütterte ein verheerendes Erdbeben die syrisch-türkische Grenzregion – das Deutsche Auswärtige Amt zählte es zu den schlimmsten Naturextremereignissen der letzten hundert Jahre. Am 6. Februar 2023 erreichte das Beben eine Stärke von 7,8 auf der Richterskala und forderten mehr als 57.000 Menschenleben. Millionen Menschen wurden obdachlos, während Städte und Dörfer in Trümmern lagen. Die Katastrophe traf mit Syrien ein krisengeplagtes Land, das seit 2011 von einem andauernden Bürgerkrieg geprägt ist. Millionen Menschen leben dort bereits unter schwierigsten Bedingungen, und die Zerstörung hat die Versorgungslage weiter verschärft. Auch in der Türkei wurden ganze Gemeinden massiv beschädigt und vor große Herausforderungen gestellt.

Auch heute, zwei Jahre später, kämpfen die betroffenen Menschen mit den Folgen des Bebens. Der Wiederaufbau ist vielerorts ins Stocken geraten, und die humanitäre Lage bleibt prekär. In dieser schwierigen Situation engagiert sich Fee Baumann seit Jahren als Nothelferin in der Region. Hauptamtlich arbeitet sie derzeit für eine irakische NGO in Nordostsyrien, unterstützt jedoch weiterhin ehrenamtlich den Kurdischen Roten Halbmond (KRC), mit dem sie eng kooperiert. Sie lebt seit sieben Jahren in Qamishl und reist häufig zwischen Syrien, dem Irak und Deutschland.

Nach dem Erdbeben koordinierte Fee Baumann die Nothilfe- und Wiederaufbaumaßnahmen des Kurdischen Roten Halbmonds. Derzeit liegt ihr Fokus auf der Unterstützung von Geflüchteten aus den nordwestlichen Gebieten Syriens. Zusätzlich berät sie den Roten Halbmond bei strategischen Entscheidungen. Im Interview spricht sie über ihre Arbeit, die Herausforderungen der Region und ihre Perspektive auf die jüngsten Entwicklungen. Bündnis-Mitglieder medico und German Doctors arbeiten weiterhin mit dem KRC zusammen und unterstützen ihre lokalen Partner in der jetzigen Krise.

Obwohl in allen Schulen und Moscheen Geflüchtete untergebracht sind, musste kurzfristig auch ein Camp im Stadion von Tabqa etabliert werden. Dort, wie auch in den anderen öffentlichen Einrichtungen, ist die Hygienesituation mangelhaft. © KRC

Bündnis Entwicklung Hilft: Frau Baumann, wie hat sich die Situation der Erdbebenbetroffenen in den letzten zwei Jahren entwickelt?  

Fee Baumann: Wir müssen hier ganz klar zwischen zwei Zeiträumen unterscheiden: der Zeit vor dem Sturz des Assad-Regimes bis Ende November 2024 und der Zeit danach. Vor dem Sturz hatte sich die Situation in Shahbah deutlich verbessert. Durch internationale Unterstützung konnten wir die medizinische Versorgung in den Camps, im Fafin-Krankenhaus und in Sheikh Maqsoud/Ashrafieh erheblich ausbauen. In Sheikh Maqsoud mit zuletzt 300.000 Einwohner:innen konnten wir eine Notfallklinik wiedereröffnen, das Fafin-Krankenhaus wurde renoviert und erweitert. 

Wir stellten die Versorgung mit Medikamenten sicher, bauten Brunnen für sicheren Zugang zu Wasser und richteten Solarenergie für medizinische Geräte ein. Ein Dorf mit 50 Wohneinheiten wurde aufgebaut, und ein Müllentsorgungssystem, besonders für medizinische Abfälle, etabliert. Trotz Fortschritten blieb die Region Shahbah aber vom Rest des Landes abgeschnitten, da das Assad-Regime die Region blockierte. 

In Sheikh Maqsoud blieb die Trinkwasserversorgung weiterhin kritisch. Das öffentliche Wassernetz war durch das Erdbeben beschädigt worden und kontaminiertes Wasser verbreitete Krankheiten wie Cholera. Die Selbstverwaltung reparierte beschädigte Rohre in ihrem Gebiet, aber das Regime kappte je nach politischer Lage regelmäßig die Wasserzufuhr. Trinkwasser musste oft teuer gekauft werden, was sich viele nicht leisten konnten. 

Wie beeinflusst der Machtwechsel in Syrien die Lage der Erdbebenbetroffenen und die humanitäre Arbeit?

Die jüngsten politischen Veränderungen haben die Situation der Erdbebenbetroffenen massiv verschärft. Ende November 2024 hat die Hayat Tahrir al-Sham-Miliz (HTS) von Idlib aus Aleppo eingenommen und innerhalb einer Woche ganz Syrien kontrolliert – mit Ausnahme einiger Stadtteile wie Sheikh Maqsoud und Ashrafieh, die weiterhin unter der Verwaltung der DAANES (Demokratischen Autonomen Administration North and East Syria) stehen. Parallel dazu hat die Syrian National Army (SNA), unterstützt durch türkische Luftangriffe, das Gebiet Shahbah besetzt. 

Unsere Teams mussten aus Shahbah fliehen, da die SNA gezielt medizinische Einrichtungen geplündert und zerstört hat. So haben wir zwei Kliniken und vier Krankenwagen verloren. Wir konnten lediglich eine mobile Klinik retten, die nun für die Geflüchteten im Nordosten Syriens im Einsatz ist. Auch aus Menbij mussten wir uns zurückziehen, nachdem die SNA das Gebiet eingenommen hatte. Für uns bedeutet das, dass wir keinen Zugang mehr zu diesen Regionen haben und die Lage vor Ort nur schwer einschätzen können. 

Fee Baumann (41) koordiniert für den Kurdischen Roten Halbmond die Nothilfe für die Geflüchteten aus den nordwestlichen Gebieten. © KRC

Die Bevölkerung in diesen Gebieten ist in großer Gefahr, insbesondere Minderheiten und Frauen. Es gibt berechtigte Befürchtungen, dass ihre Rechte massiv eingeschränkt werden. Obwohl es punktuell Verhandlungen zwischen der HTS und der Selbstverwaltung gibt, traut hier niemand dem plötzlichen Sinneswandel von Ahmed al-Sharaa (auch bekannt als Abu Mohammed al-Julani), dem Anführer der HTS. Unter dem Dach der HTS agieren weiterhin radikale Gruppen, darunter auch aktive Zellen des sogenannten Islamischen Staat (IS), die eine Bedrohung für alle darstellen, die nicht ihren Ansichten folgen. Besonders besorgniserregend ist die anhaltende Zerstörung medizinischer und ziviler Infrastruktur, die es uns unmöglich macht, Hilfe vor Ort zu leisten. 

Wie ist die Lage in den Geflüchtetencamps heute?

Die Lebensbedingungen in den Flüchtlingslagern sind katastrophal. Vor dem Machtwechsel hatte sich die Situation zwar leicht stabilisiert, insbesondere die Trinkwasser- und medizinische Versorgung. Doch seit dem Fall Assad und mit der Besetzung von Shahbah und Menbij mussten alle Geflüchteten aus diesen Camps erneut fliehen, diese Camps existieren jetzt nicht mehr. Jetzt leben mehr als 120.000 Menschen unter extrem prekären Bedingungen im Nordosten Syriens. 

Viele der Geflüchteten sind somit zum dritten Mal vertrieben worden: 2018 aus Afrin, nach dem verheerenden Erdbeben 2023 und nun durch die militärischen Auseinandersetzungen. Die meisten konnten nur das mitnehmen, was sie am Körper trugen. Schulen und Moscheen dienen als Notunterkünfte, doch sie sind völlig überfüllt und bieten kaum Schutz vor der bitteren Kälte. Es fehlt an sanitären Einrichtungen, Strom, Wasser und Nahrung. Bereits mehrere Säuglinge sind an Unterkühlung und Hunger gestorben. 

Unsere mobilen Kliniken versuchen, die dringendsten Bedürfnisse zu decken, indem sie Hygiene-Kits, Babynahrung und Kleidung verteilen. Doch das reicht bei Weitem nicht aus. Die Selbstverwaltung bemüht sich, bestehende Camps zu erweitern, aber ohne internationale Unterstützung und ausreichende Mittel ist das kaum möglich. Die UN fordert, dass die Geflüchteten in Häusern untergebracht werden, doch viele dieser Häuser sind zerstört oder nicht bewohnbar, und es fehlen Mittel für Reparaturen. 

Diese Situation macht deutlich, dass langfristige Lösungen nötig sind. Die Geflüchteten brauchen stabile Unterkünfte und Zugang zu medizinischer Versorgung. Doch die Ressourcen sind begrenzt, und ohne Unterstützung der internationalen Gemeinschaft wird sich die Lage nicht verbessern. 

Trucks stehen Schlange, um Wasser abzuholen und damit Geflüchteten-Camps und private Haushalte zu versorgen. Auch für das Bestellen der Felder ist das Wasser wichtig. Die Pumpen der teilweise neu gebauten Brunnen werden mit Solarenergie gespeist, um nachhaltiger betrieben werden zu können. © KRC

Wie hat sich die psychische Gesundheit der Betroffenen entwickelt? 

Nach dem Erdbeben 2023 konnten wir psychosoziale Programme aufbauen. In einem Camp haben wir ein Kinderbetreuungszentrum eingerichtet, das auch psychologische Unterstützung bietet. Es gab Gruppensitzungen für Erwachsene und speziell für Frauen, um sie zu ermutigen, ihre Lebensgrundlagen eigenständig zu verbessern. 

Doch die Ereignisse der letzten Wochen haben die Menschen erneut traumatisiert. In Al-Tabqa, wo viele Geflüchtete aus Shahbah und Aleppo ankamen, sahen wir Menschen, die vor Erschöpfung und Verzweiflung zusammenbrachen. Junge und alte Frauen, Männer und Kinder standen oft einfach nur da, ohne zu reagieren – sie waren völlig überwältigt. 

Unsere Teams leisten weiterhin psychologische Erste Hilfe, doch die Belastungen sind enorm. Auch unsere Mitarbeitenden sind betroffen: Viele von ihnen haben Familienangehörige verloren, wurden selbst vertrieben oder müssen täglich mit dem Leid der Geflüchteten umgehen. Die Perspektivlosigkeit und ständigen Rückschläge machen es schwer, Hoffnung zu bewahren. 

Welche Lehren wurden aus der Erdbebenkatastrophe gezogen?

Nach dem Erdbeben hat der Kurdische Rote Halbmond den Katastrophenschutz massiv ausgebaut. Über 1.000 Freiwillige wurden in Erster Hilfe geschult, und es wurde ein Netzwerk aus Ehrenamtlichen aufgebaut. Mobile Notfallteams und neue Koordinierungszentren ermöglichen es uns, zukünftig schneller auf Katastrophen zu reagieren. 

Trotzdem stehen wir immer noch am Anfang. Es fehlen finanzielle Mittel, um diese Strukturen nachhaltig auszubauen. Besonders besorgniserregend ist der Zustand des Tishreen-Staudamms, der durch wiederholte Angriffe stark beschädigt wurde. Sollte der Damm brechen, wären tausende Menschenleben in Gefahr, und große Teile der Region würden langfristig unbewohnbar. 

Es ist entscheidend, dass wir den Katastrophenschutz weiter verbessern, aber dafür brauchen wir mehr finanzielle und technische Unterstützung. 

Die Mitarbeitenden des Kurdischen Roten Halbmondes (KRC) in Qamishli bereiten Hygiene-Kits zur Verteilung vor. © KRC

Gibt es eine Begegnung, die Ihnen persönlich besonders in Erinnerung geblieben ist? 

Davon gibt es unzählige. Im Dezember 2024, als wir Zelte im Stadion von Raqqa aufbauten, kam eine ältere Frau auf mich zu und sprach mich auf Kurdisch an. Ich verstand kein Wort und wollte mich gerade nach einer Übersetzerin umsehen, da hat sie mich einfach gepackt und mich herzlich in den Arm genommen und geküsst. Sie hat mir mit Händen und Füßen zu verstehen gegeben, dass sie mich aus dem Camp in Shahbah wiedererkannte und sich unter Tränen bei mir bedankt – und mich sogar gefragt, ob ich etwas bräuchte. Obwohl sie selbst nichts mehr hatte. So standen wir da, beide weinend, Arm in Arm. Die Begegnung hatte mich zwar sehr geehrt, war aber gleichzeitig auch beschämt, weil die Hilfe so wenig ist. Und weil ich mir so hilflos vorkam, war ich gleichzeitig noch mehr ermutigt, weiterhin mein Bestes zu geben. Dieser Moment hat mich tief bewegt. Es war ein Zeichen für die Dankbarkeit und den Mut dieser Menschen, auch in einer schier ausweglosen Situation. 

Welche Unterstützung ist heute am dringendsten erforderlich? 

Die Geflüchteten brauchen vor allem Sicherheit und langfristige Perspektiven. Der Krieg muss enden, und die internationale Gemeinschaft muss politischen Druck ausüben, insbesondere auf die Türkei, um Angriffe zu stoppen. 

Kurzfristig ist humanitäre Hilfe unverzichtbar. Es fehlt an Nahrung, Wasser, medizinischer Versorgung und Unterkünften. Besonders alarmierend ist, dass gezielte Angriffe auf medizinische Einrichtungen und Krankenwagen zugenommen haben. Unsere Kliniken in Shahbah und Menbij wurden zerstört, vier Krankenwagen gestohlen. Ein Krankenwagen wurde von der Türkei beschossen, wobei unser Fahrer und ein Patient ums Leben kamen. 

Diese Angriffe sind ein klarer Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, solche Verbrechen nicht länger zu tolerieren und humanitäre Helfer:innen sowie Zivilist:innen besser zu schützen. Trotz aller Herausforderungen sind wir weiter im Einsatz. Jede Form von Hilfe lindert Leid – und dafür arbeiten wir. 

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