Teil 1: „Man muss sich das Ausmaß der Krise bewusst machen“

Im August 2017 nahm die deutsche Öffentlichkeit erstmals Notiz von der humanitären Katastrophe, die sich an der Grenze zwischen Myanmar und Bangladesch abspielte. Hundertausende der Rohingya, einer muslimischen Minderheit in Myanmar, flohen nach Bangladesch. Nach Angaben von internationalen Beobachtern waren der Auslöser dieser Fluchtbewegung Militäroperationen gegen die Rohingya in der Provinz Rakhine, im Westen von Myanmar, bei denen sich das burmesische Militär massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben soll.

Broja Gopal Saha (rechts) und Nazmul Bari (links)

Broja Gopal Saha & Nazmul Bari © Bündnis Entwicklung Hilft

Nazmul Bari und Broja Gopal Saha arbeiten für die bengalische Organisation Centre for Disability in Development (CDD), ein Partner der Christoffel-Blindenmission (CBM). In den Aufnahmecamps in der Region Cox‘s Bazar leistet die Organisation Nothilfe für geflüchtete Rohingya. Bündnis Entwicklung Hilft hat die Beiden in Berlin getroffen und mit ihnen über die Lage vor Ort, ihre Arbeit in den Aufnahmecamps und Perspektiven für geflüchtete Rohingya gesprochen.

Die Flucht der Rohingya nach Bangladesch und die Lage in der Region Cox‘s Bazar

Wie kam es zu den Gewalt-Eskalationen gegen die Rohingya in Myanmar seit Ende August 2017?

CDD: Nun, um das verstehen zu können, müssen wir einen Blick in die Vergangenheit werfen. Bereits seit 1982 wurden die Rohingya, die in der Provinz Rakhine leben, vom Staat Myanmar[1] nicht als Bürger anerkannt. Selbst die Bezeichnung „Rohingya“ wurde nicht genutzt. Ergebnis dieser Politik war u.a., dass die Rohingya keinen Zugang zu staatlichen Dienstleistungen hatten, zu Bildung oder zum Arbeitsmarkt. In Folge dessen staute sich unter den Rohingya eine große Frustration auf, die sich im August 2017 in Angriffen auf Sicherheitskräfte entlud. Dies war der Auslöser für die Militäroperationen. Das Militär stellt sein Vorgehen als Operationen gegen Extremisten dar, aber tatsächlich richtet sich der Einsatz gegen die gesamte Rohingya-Bevölkerung. Wenn man erlebt, wie das eigene Haus niedergebrannt wird, wie Schwester und Mutter vergewaltigt, die Brüder ermordet werden und wenn es kein Gefühl der Sicherheit mehr gibt, dann flieht man, um zu überleben.

Zu Beginn der Krise waren die Sicherheitskräfte noch skeptisch, ob sie die Grenze zu Myanmar öffnen sollten, doch nachdem der Premierminister es als unsere humanitäre Pflicht beschrieb, diesen Menschen zu helfen, wurde die Grenze geöffnet. Daraufhin sind über 600.000 Menschen nach Bangladesch gekommen, in weniger als drei Monaten.

Bezeichnet die Regierung von Bangladesch die Vorgänge in Myanmar als ethnische Säuberungen?

Dieser Begriff wird nicht direkt genutzt, aber es gibt Berichte des UNHCR, denen zufolge die Vorgänge in Myanmar Züge ethnischer Säuberungen aufweisen.

Wie bewerten Sie die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft seit Beginn der Krise?

Gemischt. Es gab große Unterstützung von Menschenrechtsorganisationen, die direkt auf die massiven Verstöße gegen Menschenrechte hingewiesen haben. Auch der UN-Menschenrechtsrat berief eine Sitzung zu dem Thema ein. Unserer Ansicht nach ist vor allem eine anhaltende Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft wichtig. Ohne diese Aufmerksamkeit wird es sehr schwierig, dauerhafte Lösungen für diese Krise zu finden. Gleichzeitig braucht Bangladesch die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, um den Rohingya in Bangladesch helfen zu können. 434 Millionen Dollar werden nach Angaben von UN-OCHA bis Februar 2018 für die Hilfsleistungen für die Rohingya gebraucht. Dieses Geld wird dringend benötigt für Lebensmittel, für Medikamente, für den Bau von Behausungen, ganz einfach, um das Überleben der geflüchteten Rohingya zu sichern und um die Krise langfristig zu lösen.

Wie ist die Lage in den Aufnahmecamps?

Man muss sich zunächst das Ausmaß der Krise bewusst machen. Eine Million Menschen, also etwa ein Drittel der Bevölkerung von Berlin, lebt in Cox‘s Bazar auf einer Fläche von ca. 14 Quadratkilometern. Das Gebiet ist sehr, sehr dicht bevölkert. Eine Hütte steht direkt neben der anderen. Diese Hütten sind aus Bambus und Plastik gebaut. Ein Brand hätte schlimme Folgen, ganze Camps könnten niederbrennen.

Auch die sanitäre Situation ist ausgesprochen schlecht. Es gibt keine Möglichkeiten sich zu waschen, keine Toiletten. Die Gefahr von Seuchen, vor allem von Cholera, ist extrem groß. Einige Fälle von Diphterie wurden bereits registriert, vor allem Kinder sind daran gestorben. Diese Krankheiten waren in Bangladesch ausgerottet, aber nun besteht die Gefahr, dass sich auch die örtliche Bevölkerung ansteckt. Impfprogramme sind nötig, die medizinische Versorgung muss allgemein stark ausgebaut werden. Gleichzeitig gibt es tausende Schwangere in den Camps. Viele von ihnen haben uns gesagt, dass sie in Myanmar keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten. Auch die Zahl von Waisen ist sehr hoch.

Außerdem leben dort eine Menge junger Menschen, die keinerlei sinnvolle Beschäftigung hat. Für sie sollten Bildungsprogramme eingerichtet werden. Sowohl für die medizinische Betreuung, als auch für Bildungsprogramme, brauchen wir qualifiziertes Personal und die notwendige technische Ausrüstung. Beides ist schwer zu finden.

Was wird in den Camps am dringendsten benötigt?

Jenseits der Sicherung der Grundbedürfnisse, also Nahrung, Medikamenten, sanitären Anlagen, und einer sicheren Unterkunft, brauchen die Menschen vor allem psychosoziale Betreuung. Was bisher geleistet wird ist gut, aber sicherlich nicht ausreichend. Diese Menschen sind sehr stark traumatisiert worden. Das ist eine große Herausforderung, vor allem wenn man bedenkt, wie viele Rohingya Betreuung benötigen. Viele der Geflüchteten sind traumatisiert, durch die Flucht und durch die Gewalt, die sie in Myanmar erlebt haben.

Es gibt Mitarbeitende in den Gesundheitszentren, die spezielle Trainings zu geistiger Gesundheit in Krisensituation erhalten haben. Sie liefern psychosoziale Unterstützung für Rohingya in den Camps, aber sie sind keine Psychologen oder Psychiater. Die Zahl solcher Fachärzte war in Bangladesch schon vor der Ankunft der Rohingya begrenzt. Die Regierung ist sich dieser Situation bewusst. Auch wir, CDD und CBM sind an den Prozessen beteiligt, die von der Regierung eingeleitet wurden.

Sie sagten, dass viele schwangere Frauen in den Camps sind. Aus der Forschung weiß man, dass sich die Gefühle der Mutter während der Schwangerschaft auch auf das ungeborene Kind übertragen. Sehen Sie die Gefahr, dass die Kinder, die in Cox’s Bazar geboren werden, traumatisiert zur Welt kommen werden?

Absolut! Und die Gefahr der Traumatisierung bezieht sich nicht nur auf die Rohingya. Für viele Mitarbeitenden der Organisationen vor Ort ist es sehr schwer zu verarbeiten, was sie dort erleben, damit umzugehen und ihre Arbeit fortzuführen. Auch sie brauchen Unterstützung.

Alle, die dort sind, alle, die dort arbeiten, die jeden Tag mit diesem Leid konfrontiert werden, diese grauenhaften Geschichten hören, sie alle laufen Gefahr, traumatisiert zu werden.

Gibt es psychologische Supervision für die Mitarbeitenden Ihrer Organisation?

Wir haben zwei Psychologen vor Ort, die sowohl in den Camps mitarbeiten, als auch unser Personal unterstützen. Wir planen außerdem, neben den Einzelsitzungen, unseren Mitarbeitenden auch Gruppensitzungen anzubieten. Es ist sehr wichtig, dass sie die Gelegenheit bekommen, sich zu öffnen. Auf diese Art verstehen sie, dass es in Ordnung ist, auch mit anderen Menschen über die Erfahrungen zu sprechen, die sie bei ihrer Arbeit in den Camps gemacht haben.

Aber auch in diesem Bereich ist es eine Herausforderung qualifiziertes Personal zu finden. Das Ministry of Disaster Management and Relief plant ein Training zu „Crisis Preparedness and Management For Mental Health” für 50 Personen durchzuführen. Diese 50 Personen sollen dann auch in den Camps in Cox‘s Bazar arbeiten.

[1] Zum damaligen Zeitpunkt Birma (engl. Burma). Die Militärregierung änderte den offiziellen Namen 1989 in Union Myanmar. Die Namensänderung ist allerdings umstritten und wurde aufgrund der Missbilligung der Militärregierung nicht von allen Staaten angenommen.

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