„Das Leben hat sich komplett verändert“ – Myanmar nach dem Putsch

Fraser Patterson Partner Advisor der Welthungerhilfe
Fraser Patterson, Welthungerhilfe

Nach einem Demokratisierungsprozess in den letzten Jahren hat das Militär am 1. Februar 2021 mit einem Putsch wieder die Kontrolle in dem südostasiatischen Land übernommen. Die im November 2020 wiedergewählte Regierungschefin Aung San Suu Kyi wurde abgesetzt und befindet sich, wie bereits mehrfach in der Vergangenheit, in Hausarrest. Politische Protestbewegungen werden seither durch das Militär gewaltsam niedergeschlagen – mehr als 750 Zivilist:innen wurden bereits getötet. In Folge der anhaltenden Gewalt hat sich die Lebenssituation vieler Menschen bereits dramatisch verschlechtert – die Gesundheitsversorgung wie auch die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern ist eingeschränkt. Die weitere Entwicklung ist sehr ungewiss. Fraser Patterson, Partner Advisor der Welthungerhilfe in Yangon, beschreibt im Interview die aktuelle Situation vor Ort. In Deutschland hat die Berichterstattung zur Situation in Myanmar in den letzten Wochen etwas nachgelassen. Wie nehmen Sie die Situation aktuell vor Ort auch im Vergleich zu den letzten Wochen wahr?

Auch wenn die Berichterstattung in den Medien nachgelassen hat, bleibt die Situation sehr angespannt. Die Massenproteste sind nach der brutalen Niederschlagung durch das Militär zurückgegangen, dennoch kommt es weiterhin zu Gewalt gegen Bürger:innen. Nächtliche Razzien und Verhaftungen finden in ganz Yangon und anderen Teilen des Landes statt. Während sich einige Menschen an die neue Situation anpassen, herrscht immer noch große Unsicherheit darüber, wie sich die Lage in den kommenden Wochen und Monaten entwickeln wird.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row][vc_column][vc_column_text]Wie beobachten Sie die Stimmung im Land seit dem Putsch? Wie hat sich das Leben verändert?

Für viele Menschen in Myanmar hat sich das Leben komplett verändert. Der anfängliche Schock ist Frustration und Wut gewichen. Die Menschen mussten mit ansehen, wie über 750 Zivilist:innen getötet und mehr als 3.000 verhaftet wurden. Viele Menschen haben Angst, ihr Haus zu verlassen oder sind bereits geflüchtet. Andere halten mit neuen friedlichen Formen des Protests durch. Viele Arbeiter:innen – medizinisches Personal, Bankangestellte, Beamt:innen, Hafenarbeiter:innen – haben sich der Bewegung des zivilen Ungehorsams angeschlossen und gehen aus Protest nicht mehr zur Arbeit, wodurch viele alltägliche Dienstleistungen gestört werden.

Neue Restriktionen haben auch das tägliche Leben verändert: Ausgangssperre ab 20.00 Uhr, kein mobiles Internet, viele Geldautomaten funktionieren nicht, Straßensperren und mehr Militär und Polizei auf den Straßen. Dieses Bild ändert sich jedoch je nachdem, wo man sich im Land oder sogar innerhalb einer Stadt befindet.

Wie sieht Ihr Arbeitsalltag derzeit aus? Kann die Welthungerhilfe ihre Arbeit fortsetzen?

Wir stehen bei unserer Arbeit vor vielen Herausforderungen. Die Sicherheitslage ist unbeständig und in einigen Projektgebieten ist es für Mitarbeiter:innen und Partner nicht mehr möglich, in die Gemeinden zu reisen. Das Bankensystem funktioniert derzeit nicht, was es schwierig macht, Geld an Projektbüros und Partner zu schicken und Waren und Dienstleistungen zu bezahlen. Das mobile Internet und viele Internetprovider wurden abgeschaltet, was die Kommunikation mit einigen Mitarbeiter:innen erschwert. Projekte, bei denen wir gemeinsam mit der burmesischen Regierung gearbeitet haben, wurden nun eingestellt oder angepasst. Wir konnten jedoch unsere humanitären Projekte fortsetzen – Nothilfe für Binnenvertriebene in Camps im Norden des Landes wird in Zusammenarbeit mit unseren Partnerorganisationen fortgeführt. Auch die Bereitstellung von Saatgut und anderen Hilfsgütern wird für einige Gemeinden sichergestellt, damit in der kommenden Regenzeit Lebensmittel anbaut werden können.

Welche Veränderungen bedeutet der Putsch für die Arbeit einer internationalen NGO? Wo müssen sie aufpassen? Besteht ein Unterschied zu ihren lokalen Kolleg:innen und Partnerorganisationen?

Der Raum für die Zivilgesellschaft ist in den letzten Monaten dramatisch eingeschränkt worden. Es gab mehr Restriktionen, stärkere Überwachung und bei einigen nationalen NGOs wurden Razzien durchgeführt oder Mitarbeiter:innen verhaftet. Die Sicherheit unserer Kolleg:innen und nationalen Partnerorganisationen hat für uns höchste Priorität. Wir haben verstärkte Sicherheitsmaßnahmen eingeführt und Notfallpläne für alle unsere Projekte entwickelt. Allerdings ist es noch nicht klar, ob weitere Restriktionen eingeführt werden und wie sich dies langfristig auf die Arbeit von internationalen NGOs auswirken wird.

Immer wieder wird von Expert:innen auch in einigen deutschen Medien vor einem möglichen Bürgerkrieg gewarnt. Wie schätzen Sie das Risiko ein?

In Myanmar gibt es seit mehreren Jahren, wenn nicht sogar schon seit Jahrzehnten, Konflikte zwischen bewaffneten Gruppen und dem Militär in einigen Gebieten des Landes. Einige dieser Konflikte sind in den letzten Wochen wieder aufgeflammt oder haben sich verschärft, was zu neuen Vertreibungen von Menschen und humanitären Notsituationen geführt hat. In mehreren dieser Gebiete ist zu erwarten, dass sich die Situation in den kommenden Wochen und Monaten verschlimmern und möglicherweise auf neue Gebiete ausweiten wird. Wir gehen davon aus, dass dies in bestimmten Regionen des Landes lokal begrenzt bleiben wird, aber immer noch Auswirkungen auf hunderttausende Menschen haben könnte.

Es wird berichtet, dass einige Menschen innerhalb Myanmars und auch über die Grenze nach Thailand fliehen. Sehen Sie aufgrund der aktuellen Situation einen steigenden Bedarf für humanitäre Hilfe und eine Ausweitung des Engagements der Welthungerhilfe?

In einigen Gebieten gibt es bereits einen größeren Bedarf an humanitärer Hilfe. Es wird geschätzt, dass 250.000 Menschen seit dem 1. Februar landesweit vertrieben wurden. In vielen Regionen beginnen die Lebensmittelpreise bereits zu steigen. Die Vereinten Nationen schätzten kürzlich, dass in den kommenden drei bis sechs Monaten weitere 3,4 Millionen Menschen von der Nahrungsmittelknappheit betroffen sein könnten. Um Menschen in Not zu unterstützen, müssen wir trotz der Herausforderungen, aktuelle Projekte und zukünftige Programmierungen anpassen, um diese Probleme anzugehen.

Während die aktuelle Krise die Schlagzeilen füllt, ist die Coronakrise fast in Vergessenheit geraten. Die Testkapazitäten sind stark gesunken und die Gesundheitsdienste funktionieren in vielen Gebieten nicht mehr. Dennoch sehen wir wie die Zahlen in den Nachbarländern dramatisch ansteigen und Expert:innen warnen bereits, dass eine neue Coronawelle bald kommen könnte, genau dann, wenn das Land am wenigsten darauf vorbereitet ist, damit umzugehen.

Es gibt Forderungen nach einem stärkeren Eingreifen der Vereinten Nationen und wirksamen Maßnahmen, um die militärische Führung dazu zu bringen, die Unterdrückung der Bevölkerung zu beenden. Welche Reaktionen und Schritte erwarten Sie von Deutschland und der internationalen Gemeinschaft und Zivilgesellschaft?

Die Welthungerhilfe hat zusammen mit anderen in Myanmar tätigen internationalen NGOs bereits dazu aufgerufen, alle möglichen diplomatischen Kanäle, Foren und Mittel zu nutzen, um sicherzustellen, dass die Zivilbevölkerung vor Gewalt geschützt wird, den ungehinderten Zugang zu humanitärer Hilfe für bedürftige Gemeinden in ganz Myanmar zu respektieren und dringend eine friedliche Lösung für diese Krise zu finden – zusammen mit der Bevölkerung Myanmars. Ein hohes Maß an konzertierter Aktion seitens der internationalen Staatengemeinschaft ist von extremer Bedeutung, um den Forderungen das notwendige Gewicht zu verleihen in Ergänzung zu den Maßnahmen der ASEAN, aber auch im Abgleich zu China als die einflussreichsten Größen in diesem Zusammenhang.

Was wünschen Sie sich für das Land und die Menschen vor Ort derzeit?

Die positiven Entwicklungen des letzten Jahrzehnts sind bedroht. Wir wollen, dass alle Formen von Gewalt gegen Bürger:innen und friedliche Demonstrant:innen ein Ende haben und dass die grundlegenden Menschenrechte der Menschen in Myanmar respektiert werden. Wir wünschen uns wie auch viele Burmes:innen eine Rückkehr zum Demokratisierungsprozess unter Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen des Landes sowie die Aufnahme eines effektiven Friedensprozesses.