2 Jahre Krieg in der Ukraine – ein Besuch in einem ausgezehrten Land
„Das Erste, was wir bemerken, sind die Menschen, die nicht da sind“
ein Erfahrungsbericht von Till Küster
Till Küster ist Teamleiter für Inklusive Humanitäre Projekte bei unserem Bündnismitglied Christoffel-Blindenmission (CBM) und verantwortlich für die Umsetzung der Nothilfe-Projekte in der Ukraine sowie von weltweit durchgeführten Konsortialvorhaben. Kurz vor dem zweiten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine reiste er dorthin, um von CBM unterstützte Projekte zu besuchen und sich vor Ort ein Bild von den geleisteten Hilfsmaßnahmen zu machen. In seinem Reisebericht erzählt der 44-Jährige von den direkten Auswirkungen des andauernden Krieges, vom Umgang der Menschen mit dem lebensbedrohlichen Mangel an Ressourcen sowie den großen Herausforderungen, die trotz der großen Solidarität im Land voraussichtlich auch nach dem Ende des Krieges bestehen bleiben werden.
Über eine schlammige Straße fahren meine Kollegin und ich zusammen mit unseren Partner:innen hinauf in die Dörfer der Gemeinde Storozhynets im Umland der westukrainischen Stadt Czernowitz. Wir werden vom „Starosta“, dem gewählten Vorsitzenden des Gemeindesrates, in Empfang genommen. Von den knapp über 700 Einwohnerinnen sind 110 Männer momentan an der Front oder im Kriegsdienst. „Immer wenn wir einen Toten zu beklagen haben stecken wir eine kleine Fahne neben sein Grab auf dem Friedhof“ erzählt er uns. Als wir den kleinen Friedhof der Gemeinde passieren, sehen wir Dutzende dieser blau-gelben Fähnchen.
Der Krieg in der Ukraine geht in sein drittes Jahr. Die Kampfhandlungen im Osten sind hier im Westen geographisch weit entfernt, und doch sind der Krieg und seine Folgen für das Land und die ukrainische Gesellschaft auch hier überall zu spüren und zu sehen. In den Dörfern, in denen die Männer fehlen oder auf dem Handy, wenn wieder einmal Luftalarm ausgelöst wird.
Während in Deutschland vor allem Waffenlieferungen diskutiert werden, die zusätzlich kommen müssten, nicht kommen dürfen, wann Verhandlungen beginnen können und wie dieser Krieg zu Ende gehen kann, sehen wir während unseres Besuches wie herausfordernd, ungelöst und schlecht die tägliche Situation für viele Menschen in der Ukraine ist. Es wird klar, dass dieser Krieg wohl noch lange bleiben wird. Zu brutal ist der Angriff der russischen Armee, zu viele Kriegsverbrechen werden an Ukrainer: innen begangen, wodurch Konzessionen und Gebietsabtritte unmöglich erscheinen. Niemand, dem wir zuhören dürfen, spricht von einer Waffenruhe – der Wille der Bevölkerung, den Krieg zu gewinnen, scheint ungebrochen. Und das, obwohl der Angriff der russischen Armee mittlerweile furchtbare Auswirkungen und Konsequenzen hat: Hunderttausende Tote, Millionen Vertriebene und ins Ausland geflohene Menschen, massive Zerstörungen von Städten und öffentlicher Infrastruktur und eine landesweit erschwerte Versorgung von Bedürftigen und Menschen in Armut.
In Strorozhynets besuchen wir Familien, die über von CBM geförderte Projekte Hilfsgüter und -leistungen erhalten haben. Während sich die internationalen Hilfsprogramme insbesondere auf die Unterstützung der Inlandsvertriebenen und aus dem Land geflohenen Menschen fokussieren, stellen die von CBM geförderten Projekte vor allem die Versorgung von Menschen mit Behinderungen in den aufnehmenden Gemeinden und Städten, Personen, die trotz ihrer Einschränkungen fliehen mussten, sowie durch den Krieg schwer Verletzten in den Vordergrund.
Till Küster (44) ist Teamleiter für Inklusive Humanitäre Projekte bei Bündnismitglied Christoffel-Blindenmission.
Es sind die kleinen Dinge, die schnell Verbesserung bringen
Wie in den meisten Krisenregionen sind Menschen mit Behinderungen auch hier in der Ukraine im besonderen Maße auf unterschiedliche Unterstützung angewiesen. Das hat verschiedene Gründe, die von fehlender barrierefreier Infrastruktur, struktureller Armut und Arbeitslosigkeit, fehlenden Bildungs- und Gesundheitsangeboten sowie von langen, beschwerlichen Transportwegen aus den Gemeinden in die Städte reichen. Über CBMs ukrainische Partnerorganisationen „National Assembly of People with Disabilities“ (NAPD) und der „League of the Strong” (LoS) erhalten Menschen mit schweren Behinderungen, pflegebedürftige Ältere sowie alleinerziehende Mütter Bargeldhilfen und orthopädische Hilfsmittel (Rollstühle, Prothesen, orthopädischen Betten oder etwa Toilettenaufsätze). Die vom ukrainischen Staat gezahlten Sozialhilfen für diese Menschen liegen bei 30-50 Euro im Monat, ein Betrag, der völlig unzureichend für die zusätzlichen Bedürfnisse der Menschen ist. Die Bargeldhilfen können die strukturelle Unterversorgung insbesondere in den kalten Wintermonaten abmindern und zumindest temporär die autonome Versorgung der jeweiligen Familien bedeutend verbessern. Entsprechend bewegt und gedrückt ist die Stimmung, wenn wir mit den Menschen ins Gespräch kommen. Was die größten Probleme im Alltag seien, fragen wir. Eine ältere, bettlägerige Frau, die mit ihrer Tochter aus Mariupol nach Strorozhynets geflohen ist, winkt unter Tränen ab. Ihre Tochter erzählt uns, welchen Unterschied allein die neu beschafften Windeln machen. Es sind also die kleinen Dinge, die schnell Verbesserung bringen, die konstante Herausforderung wird bleiben, wie diese Versorgung dauerhaft aufrechterhalten werden kann.
Im Vorgarten eines anderen kleinen Häuschens sprechen wir mit dem Vater eines körperlich und geistig schwer behinderten jungen Mannes. Dem Vater fehlt mittlerweile die Kraft, seinen Sohn ins Freie die Stufen hinunter tragen zu können. Hinzu kommt, dass die öffentlichen Busse nicht für Menschen mit Rollstühlen geeignet sind. Wie also in das 30 Kilometer entfernte Krankenhaus gelangen? Dort wo es möglich ist, unterstützen CBMs Partner die Bereitstellung von inklusiven „Social Taxis“, eigens angemieteten, behindertengerechten Bussen, über welche die Fahrten in die Gemeindezentren und Städte organisiert werden können. Darüber hinaus wird mit den lokalen Gemeindeverwaltungen diskutiert, ob nicht vorhandene Busse barrierefrei umgerüstet werden können. Es sind kleine Puzzlestücke in einem zerbrochenen großen und weitflächigen Land.
Wir fahren weiter in ein Nachbardorf derselben Gemeinde und besuchen eine kleine Krankenstation, die im Rathaus im ersten Stock untergebracht ist. Mit Unterstützung unserer belgischen Parteiorganisation „European Disability Forum“ (EDF) nutzen wir die bestehenden landesweiten Netzwerke unserer ukrainischen Partner und führen in Pilotvorhaben Umbaumaßnahmen durch, so auch hier. Eine Rampe wird gerade gebaut, die Krankenstation ins Erdgeschoss verlegt und erweitert, die Ausstattung und das Versorgungangebot für die Bedürfnisse von kranken und behinderten Menschen ausgeweitet. Hiermit ist ein hoher finanzieller Aufwand verbunden, der Bedarf für ähnliche Maßnahmen an unzähligen anderen Krankenstationen landesweit aber genauso gegeben. Der Ansatz von EDF und NAPD ist daher, solche Pilotvorhaben für politische Lobbyarbeit innerhalb der Ukraine in den politischen Entscheidungsprozessen und gesetzlichen nationalen (und europäischen) Vorgaben zu verankern. Unabdingbar ist daher die enge Zusammenarbeit mit den jeweiligen Gemeinderäten und Kommunalverwaltungen, deren eigene Budgets seit Beginn des Krieges massiv gekürzt wurden, da ein Großteil der Gelder in die Militärausgaben umgeleitet werden müssen. Auch hier wird erneut deutlich, dass die Dinge miteinander verknüpft sind. So lange der Krieg andauert, wird es dem ukrainischen Staat nicht gelingen, die Versorgung der eigenen Bevölkerung allein zu gewährleisten. Umso wichtiger sind derartige Pilotvorhaben. In Kooperation mit lokalen Behörden setzen sie langfristig Standards und können die Situation von Menschen mit Einschränkungen nachhaltig verbessern.
Neben der direkten Arbeit in den ukrainischen Gemeinden, unterstützt CBM die Arbeit unserer Partner in den Koordinierungsgruppen der Vereinten Nationen und des ukrainischen Staates. Auch hier gilt es, die Rechte und Bedürfnisse von behinderten und pflegebedürftigen Menschen in den nationalen und internationalen Hilfsprogrammen zu verankern. „Drop-out“ ist der englische Begriff des humanitären Jargons, der beschreibt, dass sehr oft ganze Bevölkerungsgruppen gar nicht von internationaler Hilfe erreicht werden, sei es in der Ukraine oder in anderen Krisenkontexten. Und sehr oft sind es eben Menschen mit besonderen Bedürfnissen, die in akuten Krisen aufgrund der Knappheit von finanziellen Ressourcen und der Notwendigkeit von möglichst kurzfristig umzusetzenden Hilfsprogrammen zunächst allein gelassen werden. Mittlerweile sind aber – auch aufgrund der Arbeit von EDF und anderen ukrainischen NGOs – auf Ebene des internationalen Hilfsprogramms für die Ukraine deutliche Fortschritte erzielt und Menschen mit Behinderungen verstärkt als Zielgruppe aufgenommen worden. So können in Zukunft auch systematisch mehr Gelder für entsprechende Programme zur Verfügung gestellt werden, solange die Hilfsprogramme auch von den Geberstaaten entsprechend finanziell ausgestattet sind.
Viele Kliniken können Menschen mit Behinderung nicht adäquat behandeln
Mit dem Zug geht es abends in Richtung Norden in die Stadt Ivano-Frankivsk. Hier besuchen wir ein kommunales Krankenhaus, in dem unsere Partner von LoS Trainings für das Klinik-Personal durchgeführt haben. Der Bedarf an Ergotherapie und Rehabilitierung von schwer Verwundeten und Amputierten ist seit Ausbruch des Krieges explodiert, erschreckend schwach ist aber mancherorts die personelle und fachliche Ausstattung auch in größeren Krankenhäusern, von den kleinen Gesundheitsposten in den Dörfern ganz zu schweigen. LoS organisieren mehrtägige Trainings und Fortbildungen für das Gesundheitspersonal an ausgesuchten Zentren und Krankenhäuern und stellen soziale und inklusive Busse zu den Einrichtungen bereit. Im Gespräch mit den Ärzt*innen wird der große Bedarf an mehr Personal deutlich, genauso wie die mangelhafte Ausbildung in diesem für die Ukraine so wichtig gewordenen medizinischen Feld. Hinzu kommen unzureichend ausgestatte und marode Kliniken, die für viele behinderte Menschen nicht zugänglich sind und in denen behinderte Menschen nicht adäquat behandelt werden können: unpassende Betten, unzureichend Platz in den Zimmern der Patient:innen, Waschräume und Badezimmer die nicht für Menschen im Rollstuhl oder mit Amputationen eingerichtet sind. Für die Zukunft die so wichtige medizinische Infrastruktur und das dafür notwendige Personal zur Verfügung zu stellen, ist eine weitere langfristige Mammutaufgabe für das Land, die uns fast unmöglich erscheint. Bis hierhin sind es vor allem Organisationen der ukrainischen Zivilgesellschaft und die Solidarität der Menschen im Land, die viel Unterstützung organisieren und manches von dem auffangen können, was das öffentliche Gesundheitssystem alleine nicht schultern kann.
Unsere letzte Station ist die berühmte Stadt Lviv, nahe der polnischen Grenze. Hier gilt zwar auch die nächtliche landesweite Ausgangsperre, aber bis dahin brummen die Restaurants und Bars in der Altstadt. Wie zum Trotz ertönt abends in den Straßen Live-Musik, die meist jungen Leute singen und haken sich unter, melancholische Heiterkeit inmitten der ganzen Verunsicherung, Ungewissheit und Angst. Am nächsten Tag sind wir im Rehabilitations-Zentrum unseres Partners „Momentum. Wheels for Humanity“. Mit Unterstützung von CBM wurde hier ein moderner Hub eingerichtet, in dem orthopädische und andere Hilfsmittel zentral gelagert und an Krankenhäuser und Hilfsorganisationen im ganzen Land nach Bedarf verteilt werden. Darüber hinaus werden bereits vorhandene medizinische Geräte im Land systematisch erfasst und für weitere Hilfsmaßnahmen wieder repariert und einsetzbar gemacht.
Es ist nicht nur Mangel, sondern oft auch Chaos, welches die Hilfsleistungen in der Ukraine erschwert. „Immer wieder gehen wir in Krankenhäuser und finden in Räumen massenhaft gespendete Rollstühle, die nicht katalogisiert oder beschädigt sind. Wir erfassen diese Geräte dann und reparieren sie, damit sie vor Ort an die Patient*innen verteilt werden können“, erzählt uns Yuriy, einer der Mitarbeiter von „Momentum“ in Lviv. Auf diese Weise ist „Momentum“ zu einer zentralen Anlaufstelle für das öffentliche Gesundheitssystem, aber auch für große internationale Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz geworden. Wir besichtigen das Lager von „Momentum“, in dem bis zu 6.000 moderne orthopädische Geräte und Hilfsmittel gelagert sind und im Land verteilt werden. Zusätzlich schickt „Momentum“ mobile Teams in das ganze Land, die in Krankenhäuser das Personal in der Behandlung von Patient:innen und der richtigen Einstellung von Rollstühlen und anderem Gerät schulen. Eine Erfolgsgeschichte, deren Fortsetzung unsicher ist. „Wir wissen nicht, wie lange dieser Krieg noch dauern wird. Russland will keinen Frieden, sondern unser Land besetzen. Aber schon jetzt nimmt die Zahl von Menschen mit Behinderungen dramatisch zu, der Bedarf ist enorm und steigt“, bestätigt uns auch Yuriy.
Wie in Lviv ergeht es uns genauso in den anderen Orten, die wir in dieser Woche besucht haben: überall zeigt sich große Hilfsbereitschaft und Solidarität im Land. Aber die Herausforderungen bleiben kaum zu bewältigen. Alle, mit denen wir sprechen, wissen, dass der Bedarf an Hilfe mindestens so lange andauern wird, bis dieser Krieg irgendwie vorbeigeht. Der Bedarf an medizinischer und psychologischer Unterstützung der Zehntausenden durch den Krieg Schwerverletzten aber bleibt eine Aufgabe, die auch nach dem Krieg nicht verschwinden wird.