Nach dem IS: Rojava braucht internationale Unterstützung

Militärisch gilt der sogenannte Islamische Staat (IS) in Syrien als besiegt. Die letzten IS-Bastionen wurden Ende März 2019 im Osten Syriens eingenommen. Zehntausende Menschen sind vor den Kämpfen in die Gebiete der nordsyrisch-kurdischen Selbstverwaltung geflohen. Im nördlich gelegenen al-Hol Camp leben inzwischen über 75.000 Menschen – unter ihnen sind sowohl Opfer als auch Angehörige des IS. Anita Starosta von medico international war vor Ort und berichtet von der dramatischen Lage im Camp.


Wie ist die Situation im al-Hol Camp?

Anita Starosta: Die Situation ist weiterhin angespannt und der Hilfsbedarf sehr groß. Niemand hat damit gerechnet, dass sich noch so viele Menschen in der Gegend von al-Baghuz, der letzten IS Bastion, aufhalten. Die hohe Zahl der Neu-Ankommenden übersteigt die Kapazitäten des Camps. Die lokalen Helfer*innen geben ihr Bestes und arbeiten rund um die Uhr. Der medico-Partner vom Kurdischen Roten Halbmond leistet medizinische Versorgung im Camp in einer Gesundheitsstation, dort finden erste Untersuchungen und Notfallbehandlungen statt. Es gibt einen pädiatrischen und einen gynäkologischen Bereich in den Containern. Viele Kinder kamen unterversorgt und mangelernährt im Camp an. Seit März 2019 sind bereits 200 Kinder gestorben. Der Kurdische Halbmond bringt Schwerverletzte in die umliegenden Krankenhäuser nach Al-Hasaka oder Qamischli, inzwischen sind diese aber überfüllt und haben keinen Platz. medico unterstützt beim Bau eines dringend benötigten Feldkrankenhauses, dort soll es für die Versorgung der Menschen 20 stationäre Betten geben.

In dem Camp halten sich tausende Frauen mit ihren Kindern auf, die unter dem IS gelebt haben. Sie mussten entweder unter der IS Herrschaft in ihren Dörfern leben oder haben sich dem IS angeschlossen. Die Frauen sind auf der Suche nach Hilfe, einige sind verletzt oder tragen verletzte Kinder bei sich. Die meisten der Frauen und jungen Mädchen im Camp tragen Burka oder Niqab, sie sind in schwarz verschleiert. Viele trauen sich nicht die Verschleierung abzulegen, andere sind weiterhin überzeugt. Zudem halten sich in einer eigenen Sektion im Camp etwa 10.000 bis 12.000 internationale IS-Anhänger*innen auf, aus Deutschland, Schweden, Frankreich, den USA, Kasachstan, Türkei, Tunesien und weiteren Teilen der Welt.


Wie sieht eine Zukunft für die Menschen im Camp aus? Welche Schritte braucht es insbesondere für die vielen Kinder, die seit Jahren unter dem Terror leben?

Es gibt momentan keine Perspektive für die Menschen in dem Camp. Zum Teil folgen die Frauen folgen weiter der IS-Ideologie und glauben daran ein neues Kalifat aufzubauen. Die Kinder sind unter dem IS groß geworden und kennen nichts anderes. Besonders für diese Kinder muss es schnell ein entsprechendes Bildungsangebot geben, sonst wächst dort die nächste Generation Terrorist*innen heran. Auch die Frauen benötigen Angebote, die Alternativen aufzeigen und eine Entradikalisierung fördern.

Es sind aber genauso Frauen dort, die sich vom IS abgewendet haben, zurück in ihre Heimat möchten und wieder ins normale Leben finden wollen. Dies kann aber alles nur in einem langwierigen Prozess geschehen – dafür braucht es internationale Hilfe.


Was können Hilfsorganisationen unmittelbar leisten? Welche Herausforderungen bestehen in der Versorgung?

Der Kurdische Halbmond braucht weiterhin Unterstützung bei der Gesundheitsversorgung, so fehlen zum Beispiel Krankenwägen, die Verletze innerhalb des Camps transportieren können. Auch weitere Krankenhäuser oder die Erweiterung des bestehenden ist wichtig. Es sind mehrere internationale NGOs vor Ort, aber auch sie sind am Rande ihrer Belastungsgrenze. Auch die Unterstützung der Gesundheitsstrukturen in naheliegenden Städten wird benötigt, denn dort ist in den Krankenhäusern kein Platz mehr und auch die normale Bevölkerung muss weiter versorgt werden.


Welche Schritte braucht es für eine schrittweise Rückkehr in den Alltag?

Die Dörfer in und um al-Baghuz sind zerstört. Die Gegend muss entmint werden, es können sich auch einzelne IS-Kämpfer*innen noch dort aufhalten. Eine Rückkehr kann erst erfolgen, wenn die Gegend wieder sicher ist. Und dann muss der Wiederaufbau beginnen, denn die meisten Häuser und Gebäude sind durch den Krieg zerstört.

Die internationalen IS-Anhänger*innen müssen von den nationalen Regierungen zurückgeholt werden. Bisher weigert sich zum Beispiel die Bundesregierung die IS-Anhänger*innen mit deutscher Staatsbürgerschaft zurückzuholen. Sie schiebt vor, keine Botschaft in Syrien und damit keine offizielle Vertretung zu haben. Aber was soll sonst mit diesen Leuten passieren? Die kurdische Selbstverwaltung kann diese Verantwortung nicht alleine tragen.


Welche weiteren Maßnahmen sind nun für eine Rückkehr zum Alltag erforderlich?

Zunächst sollte in Nordostsyrien ein internationales Sondertribunal eingerichtet werden, um die Kriegsverbrechen aufzuklären. Dies fordern die Kurd*innen selber, denn sie können die Gerichtsbarkeit nicht alleine leisten. Menschen aus über 50 Nationalitäten halten sich in den Camps und Gefängnissen auf, es braucht die Anerkennung, dass es sich hier um eine internationale Angelegenheit handelt.


Was können die Bundesrepublik Deutschland und die EU tuen?

Es braucht Gelder und Maßnahmen, um die humanitäre Situation im Camp weiter zu stabilisieren und die Versorgung zu gewährleisten. Dieses Camp wird so schnell nicht wieder aufgelöst werden, also braucht es eine stabile Versorgungslage für die Menschen.

Die Entlastung des Camps kann zum Beispiel durch die Rücknahme der europäischen Menschen im Camp stattfinden, durch die Frauen und Kinder, die sich aus Europa dem IS angeschlossen haben. Sie haben sich in den Ländern radikalisiert, nun muss dafür die Verantwortung übernommen werden. Des Weiteren braucht es für die Region einen langfristigen Plan, eine Auseinandersetzung mit den Menschen, die sich unter dem IS radikalisiert haben und den Kindern, die unter der Ideologie erzogen worden sind und nichts anderes kennen. Auch hier braucht es internationale Unterstützung, die lokalen Kräfte haben dafür nicht ausreichend Kapazitäten, Wissen und Mittel.


Was bedeutet die IS-Herrschaft im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung? Gibt es Ansätze die Traumata aufzuarbeiten?

Die Opfer des IS müssen gehört werden, ihnen muss Gerechtigkeit zugestanden werden, dafür sind die Verurteilung der Täter*innen und die Aufarbeitung der Verbrechen eine Grundvoraussetzung. Es wurden hunderte Jesidinnen und jesidische Kinder von dem IS gefangen genommen und wie Sklav*innen gehalten. Die Jungen wurden zu Selbstmordattentätern erzogen. Diese Gräueltaten müssen gehört und aufgearbeitet werden. Auch dies liegt in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft.