Corona-Krise in Brasilien: Arme Bevölkerung besonders gefährdet

Mehr als eine halbe Million Menschen haben sich in Brasilien bereits mit dem Coronavirus infiziert. Die Krise verschärft sich in dem größten Land Lateinamerikas immer mehr und trifft besonders die arme Bevölkerung. Christiane Rezende, Regionalkoordinatorin der Kindernothilfe in Brasilien, beantwortet im Interview Fragen zur aktuellen Situation.

Christiane Rezende, Regionalkoordinatorin Brasilien Kindernothilfe

Christiane Rezende © Kindernothilfe

Wie geht die brasilianische Bevölkerung mit der Situation um? Wie leben die Kinder mit der Pandemie?

Christiane Rezende: Viele Menschen befolgen die Regeln. Sie halten Abstand, waschen sich regelmäßig die Hände und tragen Masken. Andererseits gibt es auch Menschen, die die Anweisungen ignorieren, weil sie denken, es betrifft sie nicht. Viele können sich aber auch schlicht nicht an die Hygiene-Regeln halten, da sie zum Beispiel keinen Wasseranschluss zuhause haben. Insbesondere arme Menschen sind von Corona-Infektionen betroffen. Das liegt an der mangelnden Infrastruktur in den Gemeinden, den prekären Wohnverhältnissen und der Abhängigkeit von dem schlechten Gesundheitssystem. Viele vermeiden es, sich in ärztliche Behandlung zu begeben, aus Angst, sich anzustecken. Hilfspakete der Regierung kommen kaum oder nur schleppend bei der ärmeren Bevölkerung an. Die einkommensstärkere Bevölkerung ist oftmals insoweit privilegiert, als dass sie zurzeit nicht zwingend aus dem Haus muss, um Geld zu verdienen.

Die Folgen der Pandemie machen uns Sorgen – vor allem für Kinder und Jugendliche. Sie leiden unter emotionalem und psychischem Stress, der durch ihren veränderten Alltag, ihre teils verzweifelten Eltern und auch durch häusliche Gewalt entsteht. Die Partner der Kindernothilfe klären Familien über die Betreuung ihrer Kinder und über ein gewaltfreies Leben im Haushalt auf. Teilweise machen unsere Partner Hausbesuche, um nach den Kindern von Familien zu schauen, bei denen bereits häusliche Gewalt aufgetreten ist.

Mit welchen neuen Herausforderungen sind Sie in den Projekten seit der Corona-Pandemie konfrontiert?

Zurzeit arbeiten die Kindernothilfe und ihre Partner in all unseren Projekten viel seltener direkt mit den Kindern. In den Fällen, in denen vor Ort gearbeitet wird, wurden die Teams verkleinert. Der größte Teil der Arbeit konzentriert sich darauf, Menschen über Corona-Präventivmaßnahmen zu informieren. Familien, die fast keine oder nur wenige Grundnahrungsmittel haben, da sie momentan nicht arbeiten können, versorgen wir mit Hygieneprodukten und Nahrungsmitteln.

Ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Arbeit ist die Beratung sowie die emotionale und psychologische Unterstützung von Familien. Diese Soforthilfemaßnahmen brauchen aber Zeit. Die Bürokratie und die prekäre Infrastruktur machen es schwierig, die vielen Familien zu erreichen. Unsere Teams beachten natürlich alle Schutzmaßnahmen, um eine Ansteckung zu vermeiden. Aufgrund der Abstandsregeln werden die Mitarbeitenden der Projekte immer wieder neu kreativ und versuchen zum Beispiel mithilfe virtueller Kommunikation wie WhatsApp und Facebook den Kontakt zu den Familien aufrecht zu erhalten. So können sie Kindern zum Beispiel spielerisch erklären, wie sie sich vor Covid-19 schützen können.

Obwohl die Zahl der Corona-Infektionen in Brasilien dramatisch zunimmt, gibt es keinen einheitlichen Weg in der Politik, um das Virus einzudämmen. Inwieweit beeinflussen politische Meinungsverschiedenheiten die Arbeit der Projekte?

Der Präsident Jair Bolsonaro verharmloste die Pandemie zwischenzeitlich als „kleine Grippe“. Er setzt auch weiterhin seinen vollen Fokus auf die Wirtschaft und hatte keine Maßnahmen zur Eindämmung treffen wollen. Die Gouverneur:innen der Bundesstaaten und Gemeinden hingegen nehmen Covid-19 ernst, verhängen eigene Maßnahmen und sprechen sich teils offen gegen die Politik von Präsident Bolsonaro aus.

Die verschiedenen Meinungen der Politiker:innen führen bei Teilen der Bevölkerung zu Angst und Unsicherheit. Die Menschen wissen nicht, was nun wirklich stimmt und welche Politiker:innen mit ihren (restriktiven) Maßnahmen Recht haben. Kommunikation und Austausch zwischen ihnen gibt es nicht. Das sorgt für wenige oder falsche Informationen und für Wut und Hass unter den Menschen, die anders denken und handeln. Eine traurige Realität, die wir erleben. Daher ist es wichtiger denn je, andere Menschen zu respektieren und tolerant zu sein. Dazu tragen auch unsere Partner bei. In ihren Projekten geben sie Familien, Kindern und Jugendlichen konkrete Informationen. Dies sorgt für mehr Sicherheit und stärkt den Dialog untereinander.

Was sind die langfristigen sozialen Folgen der Pandemie für die Menschen in Brasilien, insbesondere für Kinder und Familien?

Die soziale Ungleichheit in Brasilien vergrößert sich immer mehr und die unterschiedlichen politischen Maßnahmen tragen maßgeblich dazu bei. Hinzu kommt, dass diese Maßnahmen nicht langfristig geplant sind. Es gibt kaum Programme wie Kurzarbeit oder Soforthilfe und viele Menschen, die bereits ihren Arbeitsplatz verloren haben, werden sehr wahrscheinlich auch in einigen Monaten keine neue Anstellung finden.

Was brauchen die Menschen am dringendsten und wie kann die internationale Staatengemeinschaft sie unterstützen?

Es ist sehr wichtig, dass die internationale Staatengemeinschaft die Finanzierung von sozialen und humanitären Projekten aufrechterhält. Zu Beginn der Pandemie sollte es von der Regierung einen finanziellen Zuschuss von 200,00 R$ pro Monat (ungefähr 34 Euro) pro Familie geben. Es war ein Kampf im Nationalkongress, diese Hilfe auf 600,00 R$ pro Monat (circa 102 Euro) zu erhöhen. Diese Hilfe wird es aber nicht länger als drei Monate geben. Das wird für die meisten Familien und ihre Kinder nicht reichen. Daher ist die Unterstützung der internationalen Staatengemeinschaft für Brasilien umso wichtiger.

Welche Perspektiven für die Projektarbeit wurden bisher aus den Erfahrungen mit der Pandemie gewonnen und wie können diese umgesetzt werden?

Kreativität und Kommunikation waren und bleiben auch in Zukunft sehr wichtig. Wir haben neue Arbeitsformen entwickelt. Zum Beispiel arbeiten wir nun mit Medien und sozialen Netzwerken, um mit den gefährdetsten Familien in Kontakt zu bleiben. Wir arbeiten weiter daran, dass immer mehr Familien Zugang dazu haben und so Betreuung und Schutz für Kinder geschaffen werden können. Außerdem hat sich gezeigt, dass Projekte zur Weiterbildung und politischen Einflussnahme notwendig sind.

Der Mangel an politischer Beteiligung der armen Bevölkerungsschichten in Brasilien trägt dazu bei, dass sich einige zum Beispiel politischen Ideologien rechtsextremer Gruppen anschließen oder Fake News verbreiten. Das führt dazu, dass die mit viel Einsatz durchgesetzten Menschenrechte, wie das Recht auf eine stabile öffentliche Gesundheitsversorgung, ignoriert werden. Viele Brasilianer:innen sterben ohne behandelt zu werden, weil das Gesundheitssystem Jahr für Jahr schlechter wird.

Das Interview führte Rebecca Jung, Online-Marketing Referentin von Bündnis Entwicklung Hilft