„Die Auswirkungen der Katastrophe verstärken sich weiterhin“

Ein Mann sitzt mit einem Kleinkind vor provisorisch gebauten Zelten.

© Welthungerhilfe

Während der Monsunsaison dieses Jahr gab es in Pakistan katastrophale Überflutungen. Ein Drittel des Landes stand unter Wasser. 30 Millionen Menschen wurden vertrieben. Im WeltRisikoIndex 2022 liegt Pakistan auf Rang 10 des globalen Katastrophenrisiko-Rankings. Im Interview berichtet Aisha Jamshed, Landesdirektorin der Welthungerhilfe in Pakistan, über die Situation vor Ort im November, die Folgen für die Ernährungssicherung und notwendige Anpassungsmaßnahmen mit Blick auf den Klimawandel.

Wie war die Situation in den Regionen in Pakistan nach den verheerenden Überflutungen im Sommer in den vergangenen Wochen? Wie geht es den Menschen und was benötigen sie, um sich zu erholen?

Aisha Jamshed: Die Auswirkungen der Katastrophe verstärken sich weiterhin, und auch die Zahl der Betroffenen steigt noch immer. Gleichzeitig kommen die Hilfsmaßnahmen der Weltgemeinschaft nur langsam und verstreut an. Während ein Teil der betroffenen Menschen darum kämpft, sich wieder in ihren Heimatorten einzurichten, wartet die andere Hälfte immer noch auf lebensrettende Unterstützung. Einhergehend wächst die Ernährungsunsicherheit, da in Folge der Überschwemmungen, zu denen die Menschen in Pakistan nicht beigetragen haben, Lebensgrundlagen von Millionen Menschen beschädigt oder zerstört wurden.

Die Provinz Sindh ist mit fast 70 Prozent an Gesamtschäden und -verlusten die am stärksten betroffene Provinz, gefolgt von Belutschistan, Khyber Pakhtunkhwa und Punjab, in denen wiederum die armen Distrikte am stärksten leiden. Der Verlust von Haushaltseinkommen und Vermögenswerten steigende Lebensmittelpreise und der Ausbruch von Krankheiten, treffen besonders die verwundbarsten Bevölkerungsgruppen. Frauen haben beträchtliche Einbußen bei ihrer Existenzgrundlage erlitten, insbesondere in der Landwirtschaft und Viehzucht.

Wie unterstützt die Welthungerhilfe mit ihren lokalen Partnerorganisationen die Menschen momentan, aber auch langfristig?

Unser Ansatz in Pakistan ist, mit lokalen Partnerorganisationen in besonders katastrophengefährdeten, armen und ernährungsunsicheren Distrikten zusammenzusarbeiten.  Zusammen mit diesen Partnern hat die Welthungerhilfe konsequent in die gemeindebasierte Katastrophenvorsorge investiert und vorrausschauende Hilfe gefördert. Deshalb war die Welthungerhilfe eine der ersten Organisationen, die auf die Überschwemmungen reagieren konnte, als diese sich im Juli Belutschistan ausbreiteten. Kurzfristig haben wir mit gezielten Nothilfemaßnahmen, schnellen Bargeldhilfen und Maßnahmen zum Bau von Notunterkünften und im Bereich der Wasser- und Sanitärversorgung unterstützt. Priorität hatte auch die Wiederaufnahme landwirtschaftlicher Aktivitäten.

Die mittel- bis langfristigen Hilfsmaßnahmen planen wir  grundsätzlich partizipativ, transparent und inklusiv, und legen Fokus auf einen „grünen Wiederaufbau“ für langfristige Resilienz. Dieser Wiederaufbau soll den besonders Armen und Verwundbaren zugutekommen und gendersensibel sein. Eine adäquate Koordination zwischen staatlichen Akteuren, Gebern und Nichtregierungsorganisationen sowie Synergien zwischen humanitärer Hilfe, Wiederaufbau und langfristiger Entwicklung sind von entscheidender Bedeutung. Unsere Programme sind sektorübergreifend, ernährungssensibel und vorausschauend gestaltet und sehen eine starke Lokalisierung vor, um die Ernährungssicherheit für alle Betroffenen zu verbessern.

Wie wirken sich die Überflutungen auf Pakistans Ernährungssicherheit aus? Was sind notwendige Schritte, um eine Verschlimmerung zu verhindern und die Anfälligkeit des Ernährungssystem gegenüber extremen Naturereignissen zu reduzieren?

Enorme Verluste in den produzierenden Sektoren, also in der Landwirtschaft, Nahrungsmittelindustrie, Viehzucht und Fischerei, der Wasserversorgung und Bewässerung, aber auch im Handel, in der Industrie sowie im Fremdenverkehr, verschärfen die unsichere Ernährungslage im Land weiter. 37 Prozent der Bevölkerung, also etwa 7 Millionen Menschen, waren bereits vor den Überschwemmungen von Hunger bedroht. Nun gehen vorläufige Schätzungen davon aus, dass aufgrund von Produktionsausfällen und Preissteigerungen weitere 7,6 Millionen Menschen hinzukommen.

Die erwarteten Verzögerungen bei der Aussaat der Wintersaaten, insbesondere von Weizen, werden die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln weiter einschränken und die Preise in den kommenden Monaten in die Höhe treiben. Das erschwert den Zugang zu Nahrungsmitteln insbesondere für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen in den betroffenen Gebieten. Nahrungsmittelknappheit und sich ausbreitende Krankheiten, als Folge von mangelnden Zugängen zu sauberem Wasser und sanitären Einrichtungen, werden zudem mit großer Wahrscheinlichkeit zu mehr Wachstumsverzögerungen bei Kindern führen.

Es ist wichtig, dass beim Wiederaufbau lokale Governance und staatliche Strukturen zur Sicherung von Lebensgrundlagen gestärkt werden. Auch kurz-, mittel- und langfristige Investitionen in wirtschaftliche Entwicklung, die Sicherstellung von sozialer Inklusion und Teilhabe, die nachhaltige Verbesserung sozialer Grunddienstleistungen und der öffentlichen Infrastruktur sowie ein förderliches Umfeld für die Beteiligung des Privatsektors an der Finanzierung der Widerstandsfähigkeit müssen mit Blick auf die sich verändernden Klimabedingungen und für entschiedenen Klimaschutz berücksichtigt werden.

Der Klimawandel wird voraussichtlich weitere negative Folgen in Pakistan mit sich bringen. Was sind besondere Herausforderungen für die Gesellschaft in der Bewältigung und was sind wichtige Vorsorge- und Anpassungsmaßnahmen?

Pakistan ist ein Land mit niedrigem bis mittlerem Einkommenslevel und einer vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft. Auch wenn die Industrialisierung weiter voranschreitet, arbeiten nach wie vor 42 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Für die Ernährungssicherung ist das Land in hohem Maße auf seine klimasensiblen Land-, Wasser- und Waldressourcen angewiesen. Etwa 90 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen werden durch Wasser aus dem gletschergespeisten Fluss Indus und seinen Nebenflüssen versorgt. Der prognostizierte Temperaturanstieg, die Veränderung der Niederschlagsmuster, die Zunahme extremer Wetterereignisse und die Verringerung der Wasserverfügbarkeit als Folgen des Klimawandels können zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktivität führen und damit sowohl die Verfügbarkeit als auch die Qualität der Nahrungsmittel einschränken.

Insgesamt gefährdet der Klimawandel das Einkommen, den Lebensraum, die Ernährung und die Sicherheit Pakistans. In Anbetracht dieser harten Fakten muss der Staat dringend Maßnahmen ergreifen. Für eine bessere Vorsorge und Anpassung an den Klimawandel muss die Widerstandsfähigkeit der am stärksten gefährdeten Gruppen und Regionen in den Vordergrund gestellt werden. Dafür müssen Armut und Ungleichheiten reduziert werden. Der gesamte Prozess muss in Pakistan, aber auch darüber hinaus, inklusiv und partizipativ sein, und Sichtweisen, Wissen und Fähigkeiten der Gemeinschaften aufgreifen. Regierungen müssen die Beteiligung der Öffentlichkeit an klimabezogenen und politischen Entscheidungen erleichtern. Anpassungsstrategien sollten gemeinsam mit den betroffenen Gemeinschaften auf der Grundlage der lokalen Bedürfnisse entwickelt werden. Diese Strategien sollten indigenes und traditionelles Wissen – vor allem von Frauen – einbeziehen und durch Forschung, neue Technologien sowie landwirtschaftliche und meteorologische Daten unterstützt werden.

Was sind Ihre Wünsche, um Menschen in Pakistan und der Welt besser vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen?

Ich wünsche mir, dass Regierungen und Geber zunächst gefährdete Gemeinschaften im Globalen Süden stärker in den Blick nehmen, zum Beispiel lokale Bäuer:innen, um kontextspezifische Anpassungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen, welche die Ernährungssicherung sowie die Ernährungssouveränität stärken. Zu den Maßnahmen könnten die Förderung und Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion, die Verbesserung des Zugangs für Kleinbäuer:innen zu Beratung, Ressourcen und Märkten, sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen außerhalb der Landwirtschaft in ländlichen Gebieten gehören.

Zudem brauchen wir eine radikale Umstellung der Produktions- und Konsummuster insbesondere in Ländern mit hohem Einkommen, um die Emissionen zu reduzieren und sicherzustellen, dass alle Menschen Zugang zu einer gesunden und nachhaltigen Ernährung haben. Regierungen und alle Akteure müssen nachhaltige Produktions, den Verzehr von gesunden Nahrungsmitteln und die Verringerung von Lebensmittelverlusten und -abfällen fördern.

Am Ende wünsche ich mir Klimagerechtigkeit! Länder, die mit ihren immensen Emissionen maßgeblich zum Klimawandel und mitsamt den Folgen beitragen haben, müssen die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen und die Unterstützung für betroffene Menschen sicherstellen. Alle Länder, insbesondere die Länder mit hohem Einkommen, müssen dringend ihre Verpflichtungen aus der Agenda 2030 und dem Pariser Abkommen erfüllen. Sie müssen schrittweise ehrgeizigere Maßnahmen umsetzen, wie z. B. die Dekarbonisierung ihres Energiesektors, die verstärkte Nutzung erneuerbarer Energien, den Aufbau einer umweltfreundlichen Infrastruktur und die Förderung der Kohlenstoffspeicherung.