Äthiopien: Bewaffnete Auseinandersetzungen bedrohen Fortschritt

Mit einer Bevölkerung von 112 Millionen Menschen ist Äthiopien das zweitbevölkerungsreichste Land in Afrika. Der Binnenstaat hat sich in den letzten Jahren durch ein starkes Wirtschaftswachstum ausgezeichnet, was mit einem deutlichen Rückgang der Armut, sowohl in urbanen als auch ländlichen Regionen, einherging. Dennoch rangiert Äthiopien nach wie vor unter den einkommensschwächsten Staaten weltweit.

In den letzten Jahren wurde Äthiopien international zunehmend als Stabilitätsfaktor am Horn von Afrika wahrgenommen – nicht zuletzt durch die offizielle Friedenschließung mit Eritrea im Jahr 2018. Innenpolitisch wurden in den letzten zwei Jahren unter hohem Reformdruck die Liberalisierung und Modernisierung des Landes vorangetrieben.

Die insgesamt positive Entwicklung, die das Land in den letzten Jahren vollzogen hat, wird derzeit jedoch gleich durch mehrere Krisen gefährdet. Neben der aktuellen Corona-Pandemie hat Äthiopien seit geraumer Zeit mit einer anhaltenden Heuschreckenplage zu kämpfen – mit verheerenden Folgen für die Landwirtschaft und Nahrungssicherheit. Durch starke Regenfälle ist es in den letzten Monaten mehrfach zu weitreichenden Überschwemmungen gekommen. Seit Anfang November kommt es zudem zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Zentralregierung in Addis Abeba und der Regionalregierung der Region Tigray, wodurch viele Menschen in eine humanitäre Notlage geraten sind.

Was ist der Hintergrund der gegenwärtigen Krise?

Seit Monaten bestehen Spannungen zwischen der äthiopischen Zentralregierung in Addis Abeba und der Regionalregierung namens Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Seit der Machtübernahme des amtierenden äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed, im Jahr 2018, hat die bis dahin dominierende Partei TPLF an Einfluss verloren. Die äthiopische Regierung und die TPLF sprechen sich gegenseitig die politische Legitimation ab. Zugespitzt haben sich die Spannungen seit die TPLF in Tigray, gegen den Willen der äthiopischen Regierung, im September Regionalwahlen durchgeführt hat.

Seit Anfang November führt die äthiopische Regierung Militäraktionen in der Region Tigray im Norden des Landes durch. Auslöser der gegenwärtigen Militäroffensive durch die Regierungstruppen sind angeblich gewaltsame Übergriffe durch die TPLF. Es wird von mehreren Tausend Getöteten gesprochen — darunter viele Zivilpersonen. Genaue Zahlen gibt es derzeit nicht. Die äthiopische Regierung hat für die Region Tigray für sechs Monate den Ausnahmezustand ausgerufen. Regierungsberichten zur Folge wurde Mekele, die Hauptstadt der Region Tigray, Ende November von den äthiopischen Regierungstruppen eingenommen.

Im Fokus der Auseinandersetzungen steht zwar die Region Tigray, jedoch wird auch über vereinzelten Raketenbeschuss in der angrenzenden Region Amhara berichtet. Der Konflikt wirkt sich auch auf das Nachbarland Eritrea aus. So wurden Mitte November mehrfach Raketen von Tigray aus auf die eritreische Hauptstadt Asmara gefeuert. Die TPLF wirft der eritreischen Regierung vor, sich in den inner-äthiopischen Konflikt einzumischen. Unter Berufung auf das US-amerikanische Außenministerium haben Mitte Dezember mehrere internationale Medienhäuser über einen angeblichen Einmarsch eritreischer Truppen in die Region Tigray berichtet. Neben Eritrea ist auch der Sudan indirekt durch den Konflikt betroffen, da viele Menschen aus der Region Tigray im angrenzenden Sudan nun Zuflucht suchen.

Wie ist die humanitäre Lage vor Ort?

Bereits vor Ausbruch des Konflikts waren 850.000 Menschen in der Konfliktregion Tigray auf Hilfe angewiesen. Es wird derzeit mit weiteren 1,1 Million Menschen gerechnet, die durch den Konflikt auf Hilfsmaßnahmen angewiesen sein könnten.

Seit Anfang November sind über 50.000 Menschen in den benachbarten Sudan geflohen. Ein Großteil der Menschen sucht jedoch Zuflucht innerhalb der eigenen Landesgrenzen. Schätzungen zur Folge wurden seit Ausbruch des Konflikts über 950.000 Menschen grenzübergreifend oder innerhalb Äthiopiens vertrieben.

Neben der anhaltenden bewaffneten Gewalt stellt auch die stark eingeschränkte Versorgung mit sicherem Trinkwasser und Nahrungsmitteln sowie die anhaltende Unterbrechung der Energieversorgung ein zunehmendes humanitäres Problem dar. Besonders bedrohlich ist die Situation in den schon länger bestehenden Geflüchtetencamps in Tigray. Dort leben rund 96.000 Menschen, überwiegend eritreische Geflüchtete, die bereits vor einiger Zeit in der Region Zuflucht gesucht haben. In den Geflüchtetencamps ist die Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern durch die UN und andere Hilfsorganisationen derzeit stark eingeschränkt.

Wie gestalten sich die humanitären Hilfsmaßnahmen?

Es fällt weiterhin schwer, Zahlen und Bedarfe zu verifizieren, da Kommunikationskanäle in der Konfliktregion weitestgehend gekappt wurden. Auch ist der Zugang zur gesamten Konfliktregion für humanitäre Akteure weiterhin eingeschränkt. Anfang Dezember wurde ein Team der Vereinten Nationen durch Regierungstruppen unter Beschuss genommen, nachdem das Team versucht hatte Zugang zu einem Geflüchtetencamp im Nordwesten der Region Tigray zu erlangen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres zeigte sich angesichts der gegenwärtigen Gewalt sehr besorgt und forderte die schnelle Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit.

Mehrere Mitgliedsorganisationen von Bündnis Entwicklung Hilft sind in Äthiopien aktiv. Auch für unsere Bündnis-Mitglieder und deren lokale Partnerorganisationen gestaltet sich die Arbeit aufgrund der unsicheren Sicherheits- und Informationslage derzeit sehr schwierig. Sowohl in Tigray also auch in der Grenzregion zwischen Äthiopien und Sudan, wo derzeit viele Menschen Zuflucht suchen, spitzt sich die Lage weiter zu. „Die Lage ist dramatisch und sie wird wahrscheinlich die nächsten Monate anhalten“, sagt Matthias Späth, Länderdirektor der Welthungerhilfe in Äthiopien. Obgleich der Zugang für humanitäre Akteure eingeschränkt ist, arbeiten die vor Ort aktiven Bündnis-Mitglieder an der Bereitstellung lebensnotwendiger Hilfsgüter für die aus Tigray geflüchteten Menschen. „Weitere Hilfe von außen ist dringend notwendig, um betroffene Menschen in der Region sowie die Geflüchteten im Sudan zu versorgen“, sagt Misereor-Geschäftsführer Martin Bröckelmann-Simon.

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